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Die Online-Gedenkpraktiken

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Online-Begegnungen 14-18, die am 17. März 2017 vom Ausschuss für die Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs veranstaltet wurden. Hier präsentiert Martine Aubry, Forschungsingenieurin an der Universität Lille III, die Grundlage der Kriegsdenkmäler im Inter

Im Rahmen der Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs setzte sich das Internet als Medium zur Verbreitung des Gedenkens an den Konflikt von 14-18 durch. Es wurde für den Staat und für Geschichteliebhaber auch ein Mittel, um sich auf dem Gebiet der Gedenkfeiern zu engagieren. Die mit einer kulturellen, pädagogischen und wissenschaftlichen Identität ausgestattete Hundertjahrfeier erlebte so schnell das Entstehen seiner digitalen Identität.

Corps 1

Die Begeisterung der französischen Gesellschaft für die Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs flaute während des gesamten Gedenkzeitraums (2013 bis 2019) nicht ab. Über die zahlreichen Initiativen des Staates, der Départements und Gemeinden, des Bildungs- und Vereinsbereichs sowie der akademische Welt hinaus, für die der Ausschuss für die Hundertjahrfeier eine Bestandsaufnahme vorlegte, ist die wichtige Rolle der Bürger selbst hervorzuheben.

Die Entstehung eines „Online-Gedenkens“

Das Internet ist zu einem völlig neuen Bereich geworden, in dem das kollektive Gedächtnis wieder aufgebaut wird, eine indirekte Erinnerung, die von den Erlebnissen losgelöst ist, da es keine Zeitzeugen mehr gibt. Jedoch wird sie dank privater (Fotos, Briefe, Hefte...) und institutioneller Archive rekonstruiert. Eine Erinnerung, die anhand von Spuren rekonstruiert wurde, die im Internet neuen Raum zur Veröffentlichung und Sichtbarkeit finden. So werden die Gedenkstätten für einen Soldaten oder ein Regiment zu virtuellen Gedenkorten, die ein Format sind, das es in jener Zeit nicht gab, als Pierre Nora sein Werk Les lieux de mémoire (Gallimard) in drei Bänden ausarbeitete und koordinierte.

Warum gibt es ein solches bürgerschaftliches Engagement rund um die Gedenkfeiern? Laut unseren Erhebungen scheinen drei Faktoren eine zentrale Rolle gespielt zu haben: die Bereitstellung digitaler Archive, das Vorhandensein kollektiver Hilfe - informelle Ausbildung zur Erkundung von Archiven - und schließlich die Existenz eines Netzwerks von Amateurhistorikern, das langfristig die gemeinsame Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, unabhängig von Gedenkfeiern, pflegt.

Diese Untersuchung wurde im Rahmen eines vom Labex „Les Passés dans le présent“ unterstützten und von der französischen Nationalbibliothek (BnF) betriebenen Projekts durchgeführt und führte zur Veröffentlichung des Web français de la Grande Guerre. Amateur- und institutionelle Netzwerke.

Demokratisierung des Archivzugangs

Die Digitalisierung und Online-Stellung der Archive des Ersten Weltkriegs trugen wesentlich zur Erneuerung des Publikums von Ahnenforschern und Amateurhistorikern bei. Diese begegnen bei ihren Forschungen zwangsläufig diesem Moment der Geschichte, der eine ganze Generation betroffen hat. Während sie sich früher nach Vincennes in die Archive des Verteidigungsministeriums begeben mussten, um die Akte eines „für Frankreich gefallenen“ Soldaten oder die Kriegstagebücher zu suchen, sind nun alle Dokumente auf der Website Mémoire des hommes des Verteidigungsministeriums abrufbar. Ebenso sind die Wehrstammbücher der Soldaten und damit die sorgfältig aufbewahrten Dokumente mit Angaben über das Regiment, dem sie angehörten, die Kriegshandlungen, Verletzungen, Auszeichnungen, aber auch die Augenfarbe, Körpergröße, das Bildungsniveau, den ausgeübten Beruf, die Adresse usw., jetzt online abrufbar, genauso wie die Personenstandsbücher.

 

fiche Dreyfus

Beispiel der Karteikarte eines für Frankreich gefallenen Soldaten auf der Website „Mémoire des hommes“

 

Jeder kann, ohne sich zu bewegen, von seinem Computer aus dank sorgfältig vom Staat in verschiedenen Dokumenten verzeichneter und archivierter „persönlicher Daten“ die Geschichte eines Vorfahren rekonstruieren und seine Erinnerungen aufleben lassen.

Neben den Reiseerleichterungen bieten diese digitalen Archive einen unerwarteten Vorteil. Gewiss verlieren Laien den Kontakt zur Stofflichkeit des Archivs, zum Geruch und der Haptik von Papier und Tinte, aber die digitalen Archive bieten einen viel genaueren visuellen Zugang als unser Auge, selbst unter Zuhilfenahme einer Lupe. Denn auf Grund der hochauflösenden Digitalisierung ermöglichen sie mit Hilfe der Zoomfunktionen eine außergewöhnliche Feinkörnigkeit und Details (Gesichter, Uniformen, Objekte...)

Der Besucherrückgang in den Lesesälen wird daher bei weitem durch den Zuwachs des Online-Publikums kompensiert, wie verschiedene Erhebungen über das Publikum von Archiven und der BnF zeigten. Laien sind im Übrigen zahlenmäßig die Hauptnutzer digitaler Bibliotheken. Die Begeisterung der breiten Öffentlichkeit für die Ahnenforschung und Geschichte ist nicht neu, sie ist seit den 80er-Jahren dokumentiert. Das Betreiben der Ahnenforschung, das früher dem Adel und Großbürgertum vorbehalten war, hat sich mit der Modernisierung der Gesellschaft, der Landflucht und dem Ende des Wirtschaftswunders massiv verbreitet. Wir erleben daher eine überraschende Wandlung, in deren Verlauf die Begeisterung für den Fortschritt, die Modernität und die Zukunft von einem steigenden Interesse für die Vergangenheit abgelöst wird. Historiker und Soziologen prägten dafür den Begriff „Gedenkboom“.

Digitalisierungsprojekte wurden von den Erwartungen der Zielgruppen und Digitalisierungsinitiativen von Amateuren unterstützt. Im Gegenzug haben sich die Zielgruppen diese digitalen Archive im großen Stil zu eigen gemacht. Die Zugänglichkeit der Archive allein genügt jedoch nicht, um den Publikumszuwachs zu erklären. Dieser hängt auch mit den Ausbildungsmechanismen zusammen: Neue Generationen sind dank der Sichtbarkeit der Räume für den Austausch (Foren) und der online veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und zu dessen Gedenken in die Bewegung eingebunden, da sie ohne Weiteres Zugang zu Ressourcen und Unterstützung zur Durchführung ihrer Erhebungen finden.

Zwischen dem Austausch in der Gruppe und individuellen Recherchen

Die Ermittlung und Entschlüsselung digitaler Archive geschieht nicht von selbst: Wie funktioniert es, die Spuren von Ahnen zu finden? Wo findet man das Wehrstammbuch? Was bedeutet eine bestimmte Eintragung in der Kartei? Wie ist eine bestimmte Abkürzung zu interpretieren? Auch wenn der Zugang zu den Archiven durch die Digitalisierung leichter ist, bleibt ihre Konsultation komplex: man eignet sich die Kompetenzen und das Know-how schrittweise an und auch dabei spielt das Internet eine wichtige Rolle.

Denn angesichts des Archivs ist die Einsamkeit des Ahnenforschers oder Amateurforschers zu Ende. Laien finden die Ressourcen für ihre Suche über die Tastatur und die Maus mit nur wenigen Klicks. So können sie Texte über eine Suchmaschine abfragen, die Zugang zum ganzen erworbenen Wissen über das Thema gibt oder andere Laien in gemeinsamen Online-Räumen fragen, wie zum Beispiel einem Forum, auf einer Facebook-Seite oder sogar über Twitter-Konten... Außerdem verschwimmt die Grenze zwischen der Einsicht in Dokumente und der Beratung durch Menschen, denn die Suchmaschine kann Gespräche zugänglich machen, die in Texten ihren Niederschlag gefunden haben. Es lassen sich Antworten auf eine Frage finden, weil sie jemand anderer bereits früher gestellt hat.

So gibt es in Frankreich seit 2004 ein eigenes Forum zum Ersten Weltkrieg, das von Laien betrieben wird. Dieses Forum ist sehr aktiv, mit 500.000 Nachrichten, die in 15 Jahren geschrieben wurden, 24.000 eingetragenen Mitgliedern und einem noch viel größeren Publikum. Da alle Nachrichten von den Suchmaschinen erfasst werden, kann jeder Neuling eine Antwort auf seine Frage finden, indem er eine Suchmaschine verwendet. Im Gegensatz zu den Seiten sozialer Netzwerke sind die Foren tatsächlich Orte der Wissensanhäufung. Darüber hinaus antworten die Stammgäste des Forums, wenn eine „grundlegende“ Frage im Forum gestellt wird, und verweisen auf den Diskussionsfaden, der die Antwort enthält.

In diesem Forum ziehen zwei Arten der Aktivitäten unsere Aufmerksamkeit auf sich. Einerseits der Austausch vom Typ Frage-Antwort, bei dem Wissen und bereits vorhandene Kenntnisse vermittelt werden. Dabei handelt es sich im Allgemeinen um einen kurzen Austausch, an dem nur wenige Personen beteiligt sind. Andererseits gibt es Anlässe, bei denen ein Austausch stattfindet, um ein Rätsel zu lösen oder eine aufgeworfene Frage zu untersuchen: die Identifizierung eines Schiffes auf einem Foto, die Rekonstruktion der Geschichte eines Grabens, durch den viele Regimenter gezogen sind, oder die Klärung der Verbrüderungsfrage. An einem solchen Austausch sind viele Menschen beteiligt, die einen umfangreichen, oft langen Meinungsaustausch führen. Diese gemeinsame Erarbeitung von Wissen trägt zum Zusammenhalt der Gruppe bei.

Bei jedem Gedenkjubiläum stellen die Mitglieder des Forums einen Zustrom von Neuzugängen fest, der während der Hundertjahrfeier besonders stark war: die Anzahl der neuen Mitglieder ist in den Jahren des hundertjährigen Jubiläums drastisch gestiegen (+ 66 % in 5 Jahren, von 15.000 auf 24.000 Mitglieder). Angesichts dieser Neuzugänge gibt es Aktivitäten der Wissensvermittlung, die Vorrang vor der Erarbeitung von Kenntnissen haben: die Unterstützung der Kompetenzsteigerung von Neulingen läuft darauf hinaus, dass sie auf praktische Leitfäden und gut etablierte Ressourcen verwiesen werden, die von den „Älteren“ über lange Zeit erarbeitet wurden.

Dass dieser Überschwang für den Ersten Weltkrieg, der sich durch die Gedenkfeiern erneuert hat, ein solches Echo findet, ist der vorhandenen Amateurgemeinschaft zu verdanken, die Neulingen hilft und in einer langfristigen Arbeit die kollektive Erinnerung an den Krieg durch ihre Kommunikation und Veröffentlichungen pflegt.

 

Extrait d’un journal des marches et des opérations du 57e régiment d’infanterie. Archive conservée au Service Historique de la Défense et numérisée sur le site "mémoire des hommes". © Ministère des armées/Mémoire des Hommes

Auszug aus einem Kriegstagebuch des 57. Infanterieregiments.
Bestand des Service Historique de la Défense (historischer Verteidigungsdienst), der auf der Website „Mémoire des hommes“ digitalisiert ist. © Verteidigungsministerium/Mémoire des Hommes

 

Ein Netzwerk virtueller Gedenkstätten 

In den letzten zwanzig Jahren sind im Internet Gedenkorte einer neuen Art entstanden: eigene Websites für ein Regiment, die anhand von Schlachten und Lebensläufen der Kämpfer die Geschichte rekonstruieren. Diese Gedenkstätten eint dasselbe Ziel: die Erinnerung an Soldaten aufleben zu lassen und ihnen einen zweiten Tod durch das Vergessen zu ersparen.

Bei der Rekonstruktion der Lebenswege der Kämpfer stützen sich die Amateurhistoriker auf institutionelle Archive, auf digitalisierte Dokumente der Bibliotheken und auf Privatarchive von Familien (Fotos, Hefte, Briefe). Anhand dieses Materials setzen sie Lebensgeschichten zusammen, die mit Zitaten, Auszügen aus Dokumenten und Fotos versehen sind. Man hat Textmosaike vor sich, die aus verschiedensten Archiven zusammengestellt sind, die auf der Bildschirmseite angezeigt werden. So wird die Vergangenheit näher an die Gegenwart der Geschichtsschreibung herangerückt: Denn diese Texte machen auf den Prozess der Forschung und Geschichtsschreibung mit seiner Komplexität, den Lücken in den Quellen und dem Schweigen der Geschichte aufmerksam.

Die Websites sind untereinander mit Hyperlinks verbunden, die den Austausch und die gegenseitige Hilfe unter Amateurhistorikern zeigen, und sie sind an das Forum angebunden, das der Raum des Zusammenlebens ist. Mit individuellen Initiativen ist es möglich, auf einen, wenn auch unvollständigen, Weg der Regimenter zu kommen, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, und diese mit weiteren Kriegsaspekten (Fahrzeuge, Landkarten...) zu ergänzen. Keine organisatorische Einrichtung hat die Arbeit unter den Beteiligten aufgeteilt, alles beruht auf dem Engagement der Einzelpersonen, die von der Gruppe unterstützt werden.

Die Geschichte dieser Gedenkstätten hat im Allgemeinen einen ähnlichen Weg. Ein Laie forscht nach einem Vorfahren, beginnt das gesammelte Material zu veröffentlichen und interessiert sich immer mehr für das ganze Regiment, dem sein Ahne angehörte. Dadurch vergrößert er sein Publikum, da die Nachfahren aller Regimentsmitglieder Leser der Website werden können. Er dient daher bei anderen Nachforschungen als Ressource, als Redaktionsmodell und unterstützt die Herausbildung neuer Interessenten.

Der einfache Zugang zu den Archiven durch die Digitalisierung, die bestehenden gemeinsamen Diskussionsräume sowie die aktive Präsenz einer Amateurgemeinschaft, die tapfer die Geschichte der Regimenter und Kämpfer rekonstruiert, bilden eine soziotechnische Infrastruktur, welche das Engagement der breiten Öffentlichkeit im Gedenken an den Ersten Weltkrieg unterstützt. In diesem Ökosystem entwickelt sich eine gewisse Art der Rekonstruktion der Erinnerung, die durch die Erkundung von Archiven geschieht und Neuzugängen als Ressource dient.

Am Ende dieser dichtgedrängten Gedenkjahre stellt sich die Frage nach dem Fortbestand dieser Räume. Wie lässt sich das Engagement in einer Gemeinschaft aufrechterhalten, die auf einen Bereich beschränkt ist? Wie kann man sich an geänderte Praktiken anpassen, die immer mehr über soziale Netzwerke laufen?

Ganz allgemein gibt uns das Hinweise auf die Merkmale der sozialen und technischen Infrastruktur, die benötigt wird, um die Beteiligung der Bürger an der Gedenkarbeit zu unterstützen.

 

Valérie Beaudouin - i3-SES, CNRS, Télécom Paris, Institut polytechnique in Paris

 

Extrait d’un journal des marches et des opérations du 4e régiment de marche  de zouaves, juin 1915.  Archive conservée au Service Historique de la Défense et numérisée sur le site "mémoire des hommes".

Auszug aus einem Kriegstagebuch des 4. Marschbataillons der Zuaven, Juni 1915.
Bestand des Service Historique de la Défense (historischer Verteidigungsdienst), der auf der Website „Mémoire des hommes“ digitalisiert ist.