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Vom Zeitzeugen zum Historiker: eine Geschichte des Gedenkens

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Einweihung der Mauer mit Namen in der Gedenkstätte der Shoah anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, 27. Januar 2020. © Soazig de la Moissonniere/Présidence de la République

Gedenken bedeutet, sich einer Tatsache zu erinnern, daher sind an diesem Akt Zeitzeugen beteiligt. Gedenkfeiern stützen sich seit jeher auf Berichte von Akteuren und Opfern der Konflikte. Die Geschichte der Erfahrungsberichte von der Zeit unmittelbar nach dem Krieg bis heute zeichnet eine Geschichte des Gedenkens und des Aufbaus des Gedächtnisses nach.

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2020 markiert den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Das Gedenkjahr zur Kapitulation durch Nazideutschland wurde im Januar mit der Feier zur Öffnung der Lager von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 eröffnet. 2005 hat die UNO diesen Tag zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt. Im Jahr 2020 ist dieser Tag von der Zusammenkunft zahlreicher Staats- und Regierungschefs, darunter Emmanuel Macron, in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geprägt. Das Thema: „Sich an die Shoah erinnern. Der Kampf gegen den Antisemitismus“. Viele fragen sich: Wie soll man sich erinnern, wenn die letzten Augenzeugen, deren Rolle für die Vermittlung entscheidend war, verschwinden?

Die Entstehung von Zeugen

Wie und warum haben Zeitzeugen und deren Berichte die Stellung eingenommen, die sie im Gedenken besitzen? Lässt sich die Entstehung von Zeugen der Geschichte datieren, wenn man unter diesem Begriff Personen versteht, die berichten, was sie gesehen oder erlebt haben? Philippe Lejeune, großer Spezialist für alle autobiografischen Texte, weist auf den Übergang von der Rolle des Chronisten zu jener des Zeugen Ende des 18. Jahrhunderts hin. Der Chronist, der im Allgemeinen eine Standesperson der zweiten Klasse war, bildete sich auf nationaler oder lokaler Ebene als Schreiber über das Gemeinschaftsleben heraus. Er sammelt Informationen, die er in seiner Umgebung zusammenträgt. In diesen Chroniken ist das „unmittelbare Gedächtnis“ zu finden, mit dem Ziel, später der Geschichtsschreibung zu dienen. Die moderne Presse macht der Chronik im Laufe des 18. Jahrhunderts Konkurrenz, um sie schließlich zugrunde zu richten.

Die Französische Revolution markiert das Ende der Chronisten. Es entsteht eine neue Persönlichkeit, der Zeuge, insbesondere der einfacher Soldat der Revolutions- und imperialen Kriege, der sich im Prinzip darauf beschränkt, was er selbst bei seiner persönlichen Beteiligung an einem gemeinschaftlichen Epos gesehen hat. Die offizielle Geburtsstunde des Zeugen ist vielleicht der 3. Dezember 1805, als Napoleon den Soldaten der Grande Armée verkündet: „Es wird genügen zu sagen: Ich war bei der Schlacht von Austerlitz, damit man antwortet: Siehe da, ein tapferer Mann.“

 

Veil Vaillant-Couturier

Simone Veil und Marie-Claude Vaillant-Couturier bei einer Fernsehdiskussion im Anschluss an die Ausstrahlung der US-Serie Holocaust, 6. März 1979. © Jean-Pierre Courderc/Roger-Viollet

 

Damit wird der Zeuge ermutigt, das zu sagen, was die Presse nicht sagen, sondern nur das „ich“ zum Ausdruck bringen kann, Tapferkeit in den Kämpfen oder das Leid inmitten von Katastrophen. Der Erste Weltkrieg markiert den Beginn der massenhaften Zeitzeugenberichte einer vollkommen alphabetisierten Bevölkerung, wie übrigens auch mit dem großen Buch von Norton Cru (Témoins, essai d’analyse et de critique des souvenirs de combattants édités en français de 1915 à 1928, 1929), das bei den Forschern dieses Texttypus Aufmerksamkeit erregte. Die Bedeutung der Literatur mit Aussagen von Überlebenden der Deportation, Widerstandskämpfern oder Juden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert an jene nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Zahl der Deportierten, und vielmehr noch jene der Überlebenden, in keinem Verhältnis zu jener der Frontsoldaten stand - die Ersteren bewegen sich in Zehntausenden, während es von den Zweiteren Millionen gibt. Der wichtigsten Unterschied zwischen der Produktion beider Texte war auf Seiten ihrer Rezeption zu finden. Die Erzählungen des Ersten Weltkriegs fanden leicht ein Publikum: die Millionen Veteranen; nichts dergleichen gilt für die Überlebenden der Deportation in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs: ihre Anzahl reicht nicht aus, um einen Markt zu schaffen. Das Fehlen dieses Marktes, der Käufer und Leser, erklärt zum Teil das Ende des Erzählstroms nach 1948. Dieses Fehlen läuft parallel zum Nicht-Zuhören, das die Überlebenden so verletzte, wie Simone Veil festhielt. Obwohl die beiden Schreibbewegungen wegen ihres ungeheuren Umfangs vergleichbar sind, ist dieser Vergleich trügerisch. Denn der Völkermord an den Juden hebt den Zeugen an die Stelle, die seine war und es noch immer ist. Er wurde zu demjenigen, der die Geschichte erzählt, um die Welt der Gegenwart aufzubauen. Eine so prägnante Figur, dass sie zur Wiederentdeckung der Zeitzeugenberichte anderer Konflikte oder Katastrophen anregt, den Rahmen für die Analyse des Berichts liefert und die Zeugen jener Genozide in den Vordergrund rückt, die sich später ereigneten, vor allem jener an den Tutsi durch die Hutu in Ruanda.

Die Zeit der Sammlung von Zeitzeugenberichten

Trotz der beeindruckenden Anzahl der während der Shoah oder in den Jahren danach veröffentlichten Berichte ist es der Eichmann-Prozess, der die Zukunft des Zeugen bestimmt. Diese Zukunft ist untrennbar mit der Ausbreitung der Erinnerung an den Völkermord verbunden, zuerst der jüdischen Erinnerung, dann der amerikanischen und europäischen. Dieser Prozess, „das Nürnberg des jüdischen Volkes“ (Ben Gourion), macht den Völkermord zu einem vom Zweiten Weltkrieg unabhängigen Ereignis. Der israelische Chefankläger Gideon Hausner entschied sich für einen Prozess, der durch Berichte vieler Zeugen im Zeugenstand ermöglichte, die ganze Geschichte der Verfolgung und Zerstörung seit der Machtergreifung Hitlers zu erzählen. Der Eichmann-Prozess gab erstmals jenen ihre Würde zurück, die überlebt hatten, und ließ ihre Erlebnisse in die Geschichte eingehen. Da der Prozess vom großen amerikanischen Dokumentarfilmer Leo Hurwitz für das Fernsehen in voller Freiheit auf Video gefilmt worden war, prägten sich bestimmte Zeugenberichte bei den Fernsehzuschauern für immer ein.

Ende der 1970er-Jahre wurde durch die Ausstrahlung der TV-Serie Holocaust in den USA und fast allen europäischen Ländern die Erinnerung an den Genozid der Juden in den westlichen Gesellschaften verankert. Diese Fernsehsendung ließ auch die erste große Sammlung gefilmter Augenzeugenberichte entstehen, die 1978-1979 an der Universität Yale in der Stadt New Haven initiiert wurde. Als einige Überlebende, die sich in dieser Stadt niedergelassen hatten, die Serie sahen, waren sie der Meinung, dass darin nicht ihre Geschichte widergespiegelt wurde. Sie waren keine deutschen Juden aus dem gleichgestellten Bürgertum, wie die Familie Weiss, deren Geschichte die Serie erzählte, sondern Überlebende der verschwundenen jiddischen Welt, „kleine Juden“ aus der Tschechoslowakei, Polen oder Rumänien. Sie mussten ihre Geschichte erzählen. Die Sammlung von Yale war zwar die erste, aber nicht die einzige. Viele weitere folgten ihr. Verschiedene Museen, Gedenkstätten und Gedenkverbände stellten ihre eigenen Programme auf die Füße. Das zahlenmäßig Bedeutendste ist zweifellos jenes von Survivors of the Shoah Visual History Foundation. Es wurde von Spielberg nach Schindlers Liste ins Leben gerufen und war bestrebt, die Berichte aller Überlebenden zu sammeln. Es wurden schließlich nahezu 52.000 Berichte in Europa, Amerika, Israel, Südafrika usw. gesammelt. Mittlerweile sind die Sammlungen abgeschlossen. Die Zeit schreitet fort und die Überlebenden der Shoah verschwinden. Nun ist es soweit, dass die Berichte den Lehrenden und Forschenden zur Verfügung gestellt werden können, was die neuen Technologien erleichtern.

 

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Blick auf den Zuschauerraum bei der Vorführung des Dokumentarfilms über den Tod und die Misshandlung der Insassen der Konzentrationslager während des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Jerusalem, 10. Juni 1961.
© Ullstein Bild/Roger-Viollet

 

Die Rückkehr des Historikers?

Historiker haben gegenüber diesen Zeugenberichten großes Misstrauen zum Ausdruck gebracht. Dieses Misstrauen verwandelte sich in echte Begeisterung. Diesbezüglich ist das Werk Christopher Brownings beispielhaft. Mit Inside a Nazi Slave-labor Camp (In einem Arbeitslager der Nazi) stellt er sich der Herausforderung, die Geschichte des Arbeitslagers Starachowice fast ausschließlich auf Grundlage von Zeugenberichten zu schreiben. Über solche Arbeitslager für Juden war nie eine Untersuchung durchgeführt worden. Natürlich weiß Browning, dass die Zeugenaussagen nicht immer zuverlässig sind und dass sie nicht zuletzt von all dem beeinflusst sind, was der Augenzeuge seit dem Krieg gehört und gesehen hat. Wenn man jedoch ein alter Hase in den Archiven ist, so erläutert er, hat man „eine ganz subjektive Form der Intuition“ entwickelt, die eine Einschätzung der Authentizität und Zuverlässigkeit des Berichts ermöglicht. Der Historiker unterscheidet außerdem ganz klar zwischen den Orten, die medial starke Verbreitung fanden – durch Zeugenberichte, Dokumentarfilme, Erdichtungen, insbesondere Auschwitz – und jenen, die in der Öffentlichkeit nie Thema waren. Über Erstere kursieren „Stereotypisierungen“ und „ikonische Bilder“, die sich in die Zeugenaussagen einschleichen. Diese Bilder stammen vor allem aus Filmen wie Holocaust und Schinderls Liste.

Apropos Auschwitz, es werden sogar die Motive übernommen: viele erzählen heute, dass sie in Birkenau unter dem Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ durchgegangen seien. Allerdings befindet sich dieses Tor in Auschwitz-I. Aber im Kino war es so zu sehen... Viele erzählen auch von der „Selektion“ beim Betreten des Lagers oder in den Blöcken durch einen Arzt, der unweigerlich Dr. Mengele war, so als ob er rund um die Uhr an der Einfahrtsrampe und im Lager im Dienst gewesen wäre. Andere hatten Dinge erlebt, die sie niemals gänzlich geschildert haben, die nie medial verbreitet oder durch andere Zeugenberichte, Lesungen oder Filme gestört wurden. Die Aussage ist wie „eingekapselt“, sie ist intakt geblieben. Geschichtsforschende interessieren sich besonders für diese, wenn sie weniger bekannte Aspekte der Verfolgung untersuchen. Man könnte also zu den späten Augenzeugenberichten sagen, dass ihre Zuverlässigkeit davon abhängt, was die Person aussagt.

 

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Henri Borlant, Überlebender der Shoah, Autor von Merci d’avoir survécu, spricht vor Schülern der Abschlussklasse in Metz, 29. März 2018. © Die Redaktion

 

Der Zeugenbericht als Quelle

Die Ära des Zeugen lässt sich allerdings nicht nur durch Begutachtung der Vorlage von Zeugenaussagen, ob in Form von schriftlichen Texten oder Aufnahmen, feststellen. Sie macht sich durch die Rolle bemerkbar, die dem überlebenden Zeugen zugewiesen wird, wieder und immer wieder so viel wie möglich über seine Geschichte zu erzählen, um die Jugend zum Nachdenken zu bringen. Sie ist eng mit der Entwicklung unserer Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft verknüpft. Das Ende des Kommunismus bedeutete auch das Ende der großen Erklärungsmodelle der Weltgeschichte. Es entwickelte sich das, was einige „die Geschichte von unten“ nennen. Keine Analyse der großen Ereignisse in einer zeitlichen Perspektive, sondern jene der Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Menschen. Auch wenn die im engeren Sinne verstandene Ära des Zeugen - das Verschwinden der letzten Überlebenden der Shoah ist unvermeidbar - an ihr Ende kommt, breitet sie sich im weiteren Sinne immer mehr aus. Das Wort zu ergreifen und auszusagen ist beispielsweise das Wesen der Bewegung selbst.

Dieser dem Zeugen eingeräumte Platz sagt viel über unsere Zeit aus. Sie wertet das subjektive Wort und die Meinung auf, sie zeichnet sich durch das aus, was François Hartog den „Präsentismus“ nennt und Olivier Rolin in seinem Roman Tigre en papier (Die Papiertiger von Paris) beschreibt. In seiner Jugend in den Sechzigerjahren „War die Welt, die man vor Augen hatte, in der man lebte, wie von einer Kraft verklärt, die jedes Ereignis und jeden Menschen mit einer jahrhundertealten Kette von besonders tragischen Ereignissen und Menschen verband. Heute scheint es jedoch nur noch die Gegenwart zu geben, den Augenblick selbst, die Gegenwart wurde zu einem riesigen Ameisenhaufen, zu einer außergewöhnlichen Erregtheit, einem ständigen Urknall.“

Es ist Aufgabe der Historiker, stets danach zu trachten, die Tatsachen herauszufinden; zu versuchen, den Ereignissen mit Verstand zu begegnen und die Gemütsregung, die aus den Worten des Zeugen hervorgeht, auf Distanz zu halten. Der Nationalsozialismus beispielsweise, und ganz besonders die Shoah, lassen sich nicht mit dem Leid jener zusammenfassen, die sie überlebt haben.

Der Zeugenbericht - das, was der Zeuge über verschiedenen Medien zum Ausdruck bringt - bildet gewiss eine Quelle für die Geschichtsschreibung oder einen Weg, der die Vergangenheit fühlbar macht. Die Entwertung des Zeugen und die heutigen Nutzungen bergen jedoch die Gefahr, die Geschichte zu vergessen.

 

Annette Wieviorka - Historikerin, Forschungsdirektorin am CNRS.