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Die Rolle des Staates in der Gedenkpolitik

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General de Gaulle, Chef der provisorischen Regierung, besucht das Märtyrerdorf Oradour-sur-Glane, 4. März 1945. © AFP

Trotz der weitgehenden Übereinstimmung der Erfahrungen mit zeitgenössischen Konflikten in Frankreich und Deutschland ist die Entwicklung der Gedenkpolitik in beiden Ländern aufgrund des politischen Systems - Zentralstaat auf der einen Seite, Bundesstaat auf der anderen - äußerst uneinheitlich.

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Der Begriff „Staat" ist mehrdeutig. Für die vorliegende Thematik ist eine Definition aus der Politikwissenschaft heranzuziehen, wonach der Staat das System öffentlicher Institutionen ist, dessen Ziel es ist, die Angelegenheiten einer Gemeinschaft von der Spitze bis zur kleinsten Gemeinde zu regeln. In einem Zentralstaat wie Frankreich wird die Autorität über das gesamte Staatsgebiet von Paris aus ausgeübt, während in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland die Länder trotz aller Dezentralisierungstendenzen mehr Kompetenzen, Ressourcen und Autonomie erhalten, als die Regionen in Frankreich haben.

Da die Länder darauf bestanden, die Zuständigkeiten für Kultur und Bildung übertragen zu bekommen, machte das 1949 verkündete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland diese beiden Bereiche - wie schon in der Weimarer Republik - zum „Kern der staatlichen Identität der Bundesländer" (Art. 30 und Art. 70, Abs. 1). Dies hat bis heute weitreichende Folgen für die Gedenkpolitik.

Die Macht des Präsidenten in der Gedenkpolitik

Am 4. März 1945 besuchte Charles de Gaulle das von den Deutschen in Schutt und Asche gelegte Dorf Oradour-sur-Glane und erklärte es zum Symbol für das, was dem Vaterland widerfahren war, um die Franzosen zur nationalen Einheit aufzurufen.

 

de Gaulle Oradour

General de Gaulle, Chef der provisorischen Regierung, besucht das Märtyrerdorf Oradour-sur-Glane, 4. März 1945. © AFP

 

Zehn Jahre nach der Hinrichtung der Organisatoren des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 widersprach Bundespräsident Theodor Heuss der damals in der deutschen Bevölkerung weit verbreiteten These, dass Stauffenberg und die ihn begleitenden Verschwörer das Vaterland verraten hätten, und ebnete damit allmählich den Weg für die neue Interpretation des Widerstands der Armee. Einige Jahre später war der 40. Jahrestag des Kriegsendes für Bundespräsident Richard von Weizsäcker Anlass, den 8. Mai 1945 nicht nur als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zu interpretieren, sondern auch als einen Moment der Befreiung für die Deutschen. Ein weiteres Beispiel auf französischer Seite ist der 16. Juli 1995, als Jacques Chirac zum ersten Mal die Verantwortung Frankreichs für die Deportation der auf französischem Staatsgebiet lebenden Juden nach Deutschland anerkannte. Diese Gedenkreden unterstreichen die starke symbolische Macht, die beide Präsidenten besitzen.

Trotz aller Gemeinsamkeiten muss man feststellen, dass sich die politischen Traditionen und Strukturen in Frankreich und Deutschland unterscheiden, insbesondere die weitaus größere politische Macht, über die der französische Präsident verfügt, im Gegensatz zur repräsentativen Funktion, die der deutsche Präsident ausübt. So hat Präsident Emmanuel Macron am 5. April 2019 eine Kommission zur Erforschung der französischen Archive in Bezug auf Ruanda und den Völkermord an den Tutsi (1990-1994) eingesetzt, um die Rolle Frankreichs bei diesem Völkermord zu beleuchten. Im Juli 2020 beauftragte er zudem den Historiker Benjamin Stora, im Vorfeld des 60. Jahrestags der algerischen Unabhängigkeit zu analysieren, wie Frankreich mit seiner kolonialen Vergangenheit und dem Algerienkrieg umgeht. Diese Aufgabe hat er erfolgreich abgeschlossen, indem er am 20. Januar 2021 seinen Bericht mit dem Titel „Les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d'Algérie" (Fragen zum Gedenken an die Kolonialisierung und den Algerienkrieg) vorlegte. Diese beiden Beispiele sind Ausdruck eines präsidialen Regierungssystems, während in Deutschland ähnliche Initiativen dem Bundestag vorbehalten sind.

Die Rolle des Parlaments in der Gedenkpolitik

Die Verantwortung des Bundestages für die Gedenkpolitik wurde einige Zeit nach der Wiedervereinigung deutlich, als dieser zwei Untersuchungsausschüsse einsetzte, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte und der Erinnerung an die Deutsche Demokratische Republik (DDR) befassten: die erste 1994 mit dem Titel „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", die zweite 1998 mit dem Titel „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einigung". In ihrem Abschlussbericht von 1998 empfahlen die Mitglieder der Kommission der Bundesrepublik, sich stärker für „gemeinsame Erinnerungsformen aller Deutschen in Bezug auf die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer" einzusetzen.

Eine erste Konsequenz dieser Entwicklung war die Umstrukturierung der Gedenkpolitik auf Bundesebene. So wurde unter Bundeskanzler Gerhard Schröder das Amt des „Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien" in einen „Staatsminister für Kultur und Medien" umgewandelt. Dieses vereint nun unter seiner Führung die Aktivitäten verschiedener Ministerien und steht, was ein wichtiger Punkt ist, unter der Kontrolle des Bundesparlaments. Außerdem ist er Staatsminister beim Bundeskanzler, gehört aber nicht der Bundesregierung an, da die Kulturpolitik hauptsächlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt.

 

Monika Grütters

Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, bei der Eröffnungsfeier der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung", Berlin, 21. Juni 2021. © Bernd von Jutrczenka/DPA/dpa Picture-Alliance via AFP

 

Eine zweite Folge dieser Entwicklung ist die Verabschiedung einer Resolution durch den Bundestag im Jahr 1999 zur Förderung von Gedenkstätten, insbesondere solcher, die dem „Gedenken an die Opfer des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur" gewidmet sind, sowie von solchen, die dem „Gedenken an die Opfer der kommunistischen Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR" gewidmet sind. Die Errichtung von Gedenkstätten erfuhr regelmäßige Weiterentwicklungen; so beschloss das Bundesparlament 2007, in Berlin ein „Freiheits- und Einheitsdenkmal" zu errichten. Nach langen Kontroversen begannen die Bauarbeiten im Jahr 2020 und die Einweihung ist für das Frühjahr 2022 geplant.

Ein weiteres Beispiel: Im Frühjahr 2008 beschlossen die Parlamentarier die Gründung der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung", deren Hauptaufgabe darin besteht, ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart zu gründen. Auch die Geschichte dieses Projekts war von heftigen Debatten zwischen Revisionisten und jenen, für die das Zentrum ein Ort der Versöhnung sein sollte, geprägt. Dieser neue Ort wurde schließlich im Juni 2021 in Berlin von Angela Merkel eingeweiht.

Weitere Gedenkstätten wurden mit dem Ziel konzipiert, dass Deutschland ab 2008 seiner Verantwortung nachkommt und Stätten von nationaler Bedeutung fördert, die die Erinnerung an das nationalsozialistische Terrorregime und seine Opfer wachhalten und Aufarbeitung der Diktatur in der ehemaligen DDR bewirken. Dazu gehören unter anderem das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas" (Berlin), das Museum die „Topographie des Terrors" (Berlin) und das „Haus der Wannsee-Konferenz" (Berlin). Zu den Orten, die der sowjetischen Besatzungszone/DDR gewidmet sind, gehören die „Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen" (ehemaliges Gefängnis des Ministeriums für Stasi, der Staatssicherheitspolizei der DDR), die „Stiftung Berliner Mauer" (Berlin) und die „Gedenkstätte Checkpoint Alpha an der ehemaligen innerdeutschen Grenze (Marienborn)".

Im Vergleich dazu hat die Nationalversammlung in Frankreich eine weitaus bescheidenere Funktion im Bereich der Gedenkarbeit, was sie jedoch nicht daran gehindert hat, seit Anfang der 1990er Jahre im Rahmen ihrer klassischen gesetzgebenden Funktion in diesem Bereich tätig zu werden. Als Reaktion auf Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit machte das Gayssot-Gesetz (1990) beispielsweise die Leugnung des Holocausts und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar. Mit dem Taubira-Gesetz (2001) wurden der Sklavenhandel und die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Der problematische Charakter dieser Erinnerungsgesetze zeigte sich jedoch bei der Verabschiedung des Gesetzes über den armenischen Völkermord (2001), mit dem Frankreich offiziell den Völkermordcharakter des an den Armeniern begangenen Massenmords anerkannte, sowie des Gesetzes zur Bekämpfung der Leugnung der Existenz gesetzlich anerkannter Völkermorde (2011). Bei dieser Gelegenheit wurde die Frage aufgeworfen, ob diese Gesetze tatsächlich verfassungsgemäß waren und ob es tatsächlich die Aufgabe des Parlaments sei, Geschichte zu schreiben und die Gedenkarbeit zu lenken. Diese Debatte wurde erneut angeheizt, als konservative Abgeordnete 2005 ein Gesetz verabschiedeten, das Schulbücher dazu verpflichtete, die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee zu betonen, ein Gesetz, das schließlich nicht in Kraft trat.

Die Exekutivgewalt der Ministerien

Am Beispiel Frankreichs wird die herausragende Rolle der Ministerien bei der Finanzierung und Durchführung der Erinnerungsarbeit deutlich. So organisiert beispielsweise das französische Verteidigungsministerium jährlich 11 nationale Gedenktage, nationale Ehrungen und mehrere Gedenkfeiern in Verbindung mit den laufenden Gedenkzyklen. Darüber hinaus unterhält und würdigt es unter anderem 275 nationale Nekropolen und 10 nationale Gedenkstätten und steuert die Politik zur Entwicklung des Gedenktourismus durch den Abschluss von Partnerschaftsprojekten mit den einzelnen Gebieten oder auch durch die Betreuung eines Netzwerks von fast 150 Gedenkstätten. Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Exekutive ist die Unterstützung des Kulturministeriums für mehr als 1.200 Museen in ganz Frankreich. Seit 2002 vergibt es das Label „Musée de France" und bringt damit seinen Anspruch zum Ausdruck, Museen wie die Gedenkstätte von Caen, das Museum des Krieges von 1870 und der Annektierung (Gravelotte) und das Historial de la Grande Guerre (Péronne) mit Worten und Taten zu unterstützen und gleichzeitig durch die Durchsetzung einer vorgegebenen Museumsnorm eine wissenschaftliche und technische Kontrolle zu fordern. Dieses Konzept kann als Ausdruck einer zentralisierten Verwaltung der Museumslandschaft gesehen werden.

 

Musée historique

Deutsches Historisches Museum, 17. März 2009. © Andreas Levers

 

In Deutschland ist dies dezentral organisiert; so ist das Deutsche Museum in München eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die unter dem Schutz und der Aufsicht der bayerischen Landesregierung steht, obwohl sie Zuschüsse vom Bund und anderen Bundesländern erhält. Das Deutsche Historische Museum in Berlin wurde am 30. Dezember 2008 in eine dem Land direkt unterstellte Stiftung des öffentlichen Rechts umgewandelt, deren Kuratorium aus Vertretern des Bundes sowie aus Vertretern des Bundesparlaments und der Länder besteht.

Doch wer die Erinnerung für künftige Generationen lebendig halten will, sollte sich nicht nur auf Museen, sondern auch auf Archive verlassen. Die Organisation der öffentlichen Archive spiegelt einerseits die Geschichte eines Nationalstaats und andererseits seine Strukturen und seine Erinnerungskultur wider.

So beginnt die Geschichte der französischen Nationalarchive, in denen die Archive der zentralen Staatsorgane - mit Ausnahme der Bestände des Militär-, Finanz- und Außenministeriums - aufbewahrt werden, bereits 1789/90. Sie unterstehen dem Ministerium für kulturelle Angelegenheiten, seit dieses 1959 gegründet wurde. In Deutschland wurde das Reichsarchiv erst 1919 gegründet und hatte damals die Aufgabe, die Akten des 1871 gegründeten und 1918 untergegangenen Deutschen Reiches zu sammeln und zu katalogisieren. Nach dem Ende des „Dritten Reichs" vergingen fünf Jahre, bis 1950 die Gründung des Bundesarchivs, das seit 1952 seinen Sitz in Koblenz hat, beschlossen wurde. Dieses unterliegt heute der Zuständigkeit des Staatsministeriums und hat weitere Standorte in Berlin, Freiburg im Breisgau, Bayreuth und Ludwigsburg. Das Bundesarchiv verwahrt die Dokumentenbestände des Bundes, der Zentralverwaltungen der DDR, der Besatzungszonen sowie des Deutschen Reiches und seiner Vorgänger.

En juin 2021, les Archives fédérales ont également repris la responsabilité du fond documentaire du ministère de la sécurité d’État de l’ancienne RDA. Le droit de consulter les actes reste accordé sans changement aux entités publiques, historiens et victimes, si bien que les anciens de la RDA peuvent constater le contrôle que la Stasi a exercé sur leur vie privée. La compétence du ministère d’État s’étend en outre à d’autres archives et institutions relatives à l’information et à la recherche historique, comme par exemple les "Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution", qui aident à faire la lumière sur les destins personnels des victimes du nazisme. L’accès aux archives est un point sensible qui, en Allemagne comme en France, suscite régulièrement des discussions entre les représentants d’État et les historiens.

Im Juni 2021 übernahm das Bundesarchiv auch die Verantwortung für den Dokumentenbestand des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Das Recht auf Akteneinsicht wird öffentlichen Stellen, Historikern und Opfern unverändert gewährt, so dass ehemalige DDR-Bürger die Kontrolle der Stasi über ihr Privatleben nachvollziehen können. Die Zuständigkeit des Staatsministeriums erstreckt sich darüber hinaus auch auf andere Archive und Einrichtungen, die mit historischer Information und Forschung zu tun haben, wie z. B. das „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution", das dabei hilft, die persönlichen Schicksale von Naziopfern aufzuklären. Der Zugang zu Archiven ist ein heikler Punkt, der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich regelmäßig zu Diskussionen zwischen Staatsvertretern und Historikern führt.

In beiden Ländern erfolgt die Weitergabe der Erinnerung außerdem über die Arbeit mit den Schulen. Östlich des Rheins, wo das Bildungswesen in die Zuständigkeit der Länder fällt, gibt es keine nationale Gedenkagenda in den Schulen. Auch wenn die Bundesregierung Projekte zur historischen Erinnerungsarbeit aufgreift (2020 war dem Thema „30 Jahre deutsche Wiedervereinigung" gewidmet), behalten die Länder weiterhin die Kontrolle über die Aufnahme der Erinnerungsarbeit in die Lehrpläne der Schulen. Am 30. Mai 2018 haben beispielsweise die Bildungsminister von Rheinland-Pfalz und dem Saarland in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Yad Vashem ein Projekt zur Vertiefung der Erinnerungsarbeit an Schulen ausgearbeitet. Im Jahr 2020 legte das Bundesland Brandenburg in seinen Programmen einen Schwerpunkt auf die Bedeutung von Gedenkstätten, die symbolisch für die Zeit des Nationalsozialismus, das Ende der SED-Diktatur und die deutsche Wiedervereinigung stehen.

In Frankreich sind die Schulen eng in die vom Verteidigungsministerium geleitete Erinnerungsarbeit eingebunden und werden daran beteiligt. So werden sie ermutigt, an nationalen Zeremonien teilzunehmen oder auf Aufrufe zu pädagogischen Projekten im Zusammenhang mit Gedenkthemen zu reagieren. Auf nationaler Ebene trägt das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport zur Umsetzung der Gedenkpolitik bei und leitet den Verteidigungsunterricht in enger Zusammenarbeit mit institutionellen Partnern wie der Direktion für Kulturerbe, Gedenken und Archive des Verteidigungsministeriums, seinem Gedenkstättenbetreiber, dem Nationalen Amt für Kriegsveteranen und Kriegsopfer, aber auch mit Gedenkstiftungen, Museen und Gedenkstätten. Der Verteidigungsunterricht, ein in Europa neuartiges Pflichtfach, das 1997 mit der Aussetzung des Wehrdienstes eingeführt wurde, zeigt, dass in Frankreich ein anderes Verhältnis zur Kriegserinnerung besteht als in Deutschland.
 

 

Un soldat allemand visite

Ein deutscher Soldat besucht die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, die im November 2001 gezeigt wurde, Deutsches Historisches Museum, Berlin.
© Wolfgang Kumm/dpa_pool/dpa Picture-Alliance via AFP

 

Das deutsche Verteidigungsministerium zog es vor, im Bereich der pädagogischen Erinnerungsarbeit eine zurückhaltendere Haltung einzunehmen und stellte seine Arbeit unter das folgende Motto: „Aus Versäumnissen und Pflichten lernen". Die deutschen Diskussionen über das Kriegsgedenken beinhalten eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des Militärs in der Zeit des „Dritten Reichs". Dies geschieht durch die Anerkennung der Verbrechen der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, aber auch durch die Würdigung vorbildlicher Soldaten wie Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der den Widerstand der Armee gegen das nationalsozialistische Regime organisierte. Diese Bemühungen haben vor kurzem besondere Aktualität erlangt, als Bundeswehrsoldaten neonazistisches Gedankengut bekundeten. Die Schwierigkeiten, mit denen die deutsche Gesellschaft konfrontiert ist, wenn es um das militärische Gedenken geht, traten erneut in den Vordergrund, als 2009 auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums ein Denkmal der Bundeswehr errichtet wurde, das an die über 3.300 Männer und Frauen erinnern soll, die seit 1955 bei der Ausübung ihrer Dienstpflicht ihr Leben verloren haben.

Länder versus Regionen

Der Bund und die Länder möchten heute stärker zusammenarbeiten, wobei die Länder weiterhin auf die Verteidigung ihrer Vorrechte im Bereich der Gedenkarbeit bedacht sind. Der Bund wird vor allem dann tätig, wenn die Erinnerungsarbeit eine nationale Dimension hat, z. B. wenn es um die Pflege von Gedenkstätten geht. Seit 1950 subventioniert der Bund aus seinem Förderprogramm „Kulturdenkmäler von nationaler Bedeutung" die Erhaltung von historischen Denkmälern, archäologischen Stätten, historischen Parks und Gärten. Zwischen 1950 und 2020 wurden im Rahmen dieses Programms mit rund 387 Millionen Euro über 700 Kulturdenkmäler erhalten und restauriert. Darüber hinaus gibt es seit 2007 spezielle Programme zur Finanzierung von Kleinprojekten, die zum Schutz und zur Erhaltung von Denkmälern beitragen. Zwischen 2007 und 2021 konnten fast 2100 kulturell bedeutende Denkmäler für insgesamt 330 Millionen Euro saniert werden. Charakteristisch ist hier die Kofinanzierung, da sich Länder, Gemeinden, Eigentümer und Projektträger zu gleichen Teilen beteiligen müssen. Ziel ist es auch, mit diesen Programmen kleine und mittlere Unternehmen sowie Handwerksberufe, das Baugewerbe und öffentliche Aufträge zu unterstützen.

Darüber hinaus stößt der Kulturföderalismus überall dort an seine Grenzen, wo die Länder die Erinnerungsarbeit nicht aus eigener Kraft leisten können und auf die Hilfe des Bundes angewiesen sind. So organisieren die 16 Bundesländer ihre Arbeit auf unterschiedliche Weise. Im Bundesland Baden-Württemberg beispielsweise erfolgte die Arbeit an Gedenkstätten hauptsächlich durch zivilgesellschaftliches Engagement. Um sich gegenseitig zu unterstützen und ihre Interessen gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu vertreten, haben sich die auf private Initiative gegründeten Gedenkstätten 1995 in der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG) zusammengeschlossen, die eng mit der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) zusammenarbeitet. Diese wurde vom Regionalparlament mit der Aufgabe betraut, die Gedenkstätten des Landes bekannt zu machen, indem sie deren Förderung koordiniert. Darüber hinaus gewährt sie finanzielle Unterstützung und begleitet die Arbeit der Gedenkstätten, indem sie Ratschläge zu ihrer Programmgestaltung erteilt. Mit der am 14. Juli 2020 geschlossenen Partnerschaft zwischen Baden-Württemberg und Frankreich hat sich das Bundesland auch die Möglichkeit geschaffen, grenzüberschreitende Projekte im Bereich der Gedenkarbeit zu unterstützen.

Auch in Sachsen begann die Arbeit rund um die Gedenkstätten nach 1990 auf Anregung der Zivilgesellschaft. Nachdem sich die Gedenkpolitik der DDR darauf beschränkt hatte, die kommunistischen Opfer des Nationalsozialismus zu würdigen, galt es, dem Begriff der Opfer eine plurale Bedeutung zu geben, indem sowohl den Opfern des „Dritten Reiches" als auch denen der „SED-Diktatur" ihre Würde zurückgegeben wurde.

So beschloss die Regierung des Bundeslandes Sachsen am 15. Februar 1994 die Gründung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zum Gedenken an die Opfer politischer Gewaltherrschaft und legte mit dem Sächsischen Gesetz über die Stiftung Sächsische Gedenkstätten vom 28. Februar 2003 die Grundlage für eine Gesetzgebung zur Erhaltung historischer Orte, die mit den Verbrechen unter den beiden totalitären Regimen in Verbindung stehen. Allerdings entwickelte sich ein Wettstreit der Opfer und eine Debatte darüber, ob man die beiden Regimes auf die gleiche Stufe stellen kann, wobei die Nazi-Verbrechen tendenziell relativiert wurden. Seit dem 16. Dezember 2012 ist ein neues Gesetz in Kraft, das die Situation entschärft hat. Die Fälle Sachsen und Baden-Württemberg zeigen, dass die Länder dank ihrer beträchtlichen Ressourcen in der Lage waren, eine strukturierte Erinnerungsarbeit aufzubauen, die den regionalen Besonderheiten gerecht wird..

Auch die französischen Regionen haben durch die Dezentralisierung an Verantwortung und Autonomie gewonnen. Anlässlich der Gedenkzyklen haben sie beispielsweise Gedenkprogramme aufgestellt, die die historische und erinnerungspolitische Einzigartigkeit des Gebiets verdeutlichen sollen, wenn auch häufig in Zusammenarbeit mit den zentralen Behörden in Paris. Die Region Grand Est zum Beispiel unterstützt regelmäßig Projekte, die sich mit der Geschichte des Grenzgebiets zwischen Frankreich und Deutschland und dem Schicksal der „Malgré-Nous" befassen. Die Region Languedoc-Roussillon beteiligt sich zusammen mit dem Département Pyrénées-Orientales an der Finanzierung der Gedenkstätte des Lagers Rivesaltes. Die Region Auvergne-Rhône-Alpes begleitet ihrerseits die Erinnerungsarbeit des Maison d’Izieu. Die Liste vergleichbarer Beispiele in den verschiedenen Regionen ließe sich verlängern; diese haben erkannt, dass regionale Gedenkstätten für den Tourismus von Bedeutung sind. Dieser Handlungsspielraum der Regionen schließt jedoch nicht aus, dass der Staat viele dieser Projekte auf regionaler Ebene unterstützt und begleitet.

 

Mémorial du camp

Mémorial du camp de Rivesaltes, 17 juillet 2016. © Maxime Soens

 

Im Falle Frankreichs ist festzustellen, dass sich die verschiedenen staatlichen Stellen die Möglichkeit geschaffen haben, viel direkter auf die Erinnerungsarbeit einzuwirken, während in Deutschland die Erfahrungen mit zwei totalitären Regimen im 20. Jahrhundert zu einer dezentralisierten Erinnerungsarbeit geführt haben, deren Ziel es jedoch gerade ist, die Interventionsmacht des Staates in Bezug auf die Ausrichtung zu begrenzen. Trotz aller strukturellen Unterschiede mobilisiert die Erinnerungsarbeit in Deutschland wie in Frankreich sowohl die verschiedenen staatlichen Institutionen als auch die Zivilgesellschaft und die akademische Gemeinschaft.

Die Beobachtung dessen, was in Europa geschieht, zeigt, dass eine fruchtbare und pluralistische Erinnerungsarbeit immer dann möglich ist, wenn der Staat das Subsidiaritätsprinzip respektiert und keine politischen oder gar ideologischen Erwägungen in diese so wichtigen Fragen der Geschichte und des Gedenkens einfließen lässt. So ist es wünschenswert, dass der Staat einen Rahmen für Diskussionen bietet, der eine Erinnerungsarbeit ermöglicht, die offen für kritische Betrachtungen und Kontroversen ist.

 

Ulrich Pfeil - Historiker, Professor für deutsche Zivilisation an der Université de Lorraine (Metz)
Aus dem Deutschen übersetzter Text