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Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Frankreich

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Zeremonie zur Überführung der Asche von Jean Moulin (1899-1943) in das Pantheon. Paris, Dezember 1964. © LAPI/Roger-Viollet

Das kollektive Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in Frankreich umfasst heute mehrere Komponenten, wie die Figur des Widerstandskämpfers, die jüdischen Opfer oder auch das Vichy-Regime. Diese unterschiedlichen Erinnerungen waren schon immer Teil der französischen Identität, wobei die eine im Laufe der verschiedenen Gedenkregime, die aufeinander folgten, die andere manchmal dominierte.

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Wir schreiben den Mai 1967. Claude Lévy und Paul Tillard signieren ein Buch, das großes Aufsehen erregen wird: La Grande Rafle du Vél’ d’Hiv’ (Die große Razzia von Vél' d'Hiv). Es wird von einem Massenbuchverlag, Robert Laffont, herausgebracht. Den gesamten Sommer über steht es in der Kategorie Sachbuch an der Spitze der Verkaufszahlen. Es wird mit dem Preis „Aujourd'hui" ausgezeichnet, der jedes Jahr das beste Buch im Bereich Zeitgeschichte krönt. Im März desselben Jahres bringt Claude Berri einen Film heraus, der ein großer Erfolg wird: Le Vieil Homme et l’Enfant (Der alte Mann und das Kind) erzählt von der Besatzungszeit, von Antisemitismus und versteckten Kindern. Der Film war ein großer Publikumserfolg und wurde im Jahr seiner Veröffentlichung mit dem Silbernen Bären in Berlin ausgezeichnet.

1959: André Schwartz-Barts Buch Le Dernier des Justes (Der Letzte der Gerechten) erhält den Prix Goncourt, gewinnt aber vor allem die Wertschätzung der Öffentlichkeit mit rund 350.000 verkauften Exemplaren!

Drehen wir die Zeit noch einmal zurück. Es ist der 28. Januar 1946. Die kommunistische Funktionärin Marie-Claude Vaillant-Couturier sagt bei den Nürnberger Prozessen aus. Sie berichtet natürlich über die Deportation von Politikern, Frauen, nach Auschwitz und später nach Ravensbrück. Ihre Aussage möchte sie jedoch mit der Erzählung über die Selektion der Juden bei ihrer Ankunft in Auschwitz, die Gaskammern, die Krematorien und Mengeles Experimente an den Überlebenden beginnen. Im Jahr 1946 möchte also eine kommunistische Parteiführerin von dem Schicksal der Juden berichten.

 

Cérémonie du 18 juin 1946

Zeremonie am 18. Juni 1946 unter dem Vorsitz von General de Gaulle vor dem provisorischen Denkmal auf dem Mont Valérien. © Ordre de la Libération

 

Die erzählerische Gestaltung des Gedenkens verstehen

Diese und viele andere Beispiele rufen eine naheliegende Feststellung hervor: Man kann sich nicht mit dem immer wieder verwendeten binären Schema zur Geschichte der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Frankreich zufrieden geben, umso weniger, als es in den Lehrplänen der Abschlussklasse zu finden ist. Diese Geschichte der Erinnerung wird auf zwei Momente reduziert: Den einen, der seit den Tagen nach der Befreiung vor allem die Figur des Widerstandshelden verherrlicht; der Wendepunkt kam Anfang der 1970er Jahre, als mit Hilfe von Serge Klarsfeld und Robert Paxton endlich die jüdischen Opfer der Besatzung erwähnt wurden. Zweigeteilte Erinnerung, die meist durch ein radikales Urteil verstärkt wird: Endlich ist die Zeit der Wahrheit gekommen. Kehren wir zu Marc Bloch zurück, der in Apologie pour l'histoire ou métier d'historien (Apologie für die Geschichte oder der Beruf des Historikers) schreibt, dass ein Wort „die Studien der Historiker beherrscht und erhellt: „verstehen": „Wenn man zu viel urteilt, verliert man fast zwangsläufig die Lust am Erklären. (...) Die Wissenschaften haben sich stets als umso fruchtbarer erwiesen, (...) je bewusster sie den alten Anthropozentrismus von Gut und Böse aufgegeben haben".

Es gibt Instrumente, um die Geschichte des Gedenkens zu erfassen. Man kennt es aus dem kollektiven Gedenken, das eine selektive Darstellung der Vergangenheit ist, die zur Identitätsbildung einer Gesellschaft (oder einer bestimmten Gruppe) beiträgt. Ich füge einige zusätzliche Analyseinstrumente hinzu, um die es mir geht: Gedenkregimes geben Aufschluss über jene Gedenkkonfigurationen, die über einen beträchtlichen Zeitraum gefestigt wurden und auf realen, imaginären oder virtuellen Darstellungen beruhen. Aber zum einen bedeutet eine Dominante nicht, dass die Minoritäten verschwinden. Anstatt sich ein plötzliches Verschwinden und Wiederauftauchen vorzustellen, sollten wir lieber von einem starken/schwachen Gedenken sprechen. Außerdem muss man sich fragen, wie ein Ereignis im kollektiven Gedenken verankert wird. Das Naheliegende wäre, dass dies mit seiner Bedeutsamkeit zusammenhängt. Aber es gibt so viele Beispiele, die uns zu einer differenzierteren Betrachtung veranlassen. Dies gilt auch für den Exodus im Mai und Juni 1940. Für den Historiker ist dies ein wichtiges Ereignis. Was kann man jedoch seit dem Krieg feststellen? Es gibt Bücher, Filme und Dokumentarfilme, aber bislang ist der Exodus von Mai/Juni 1940 kein strukturierendes Ereignis im kollektiven Gedenken. Woran liegt das? Wenn das kollektive Gedenken „auswählt", was zur Identitätsbildung der französischen Gesellschaft beiträgt, was macht man dann mit Scham, Angst, Flucht und manchmal auch Diebstahl? Nichts. Streng genommen hat dieses Ereignis keine Bedeutung, keinen sozialen Nutzen. Man muss also die Bedingungen verstehen, unter denen die Erinnerung in Erzählungen verpackt wird.

 

Cérémonie du transfert

Zeremonie zur Überführung der Asche von Jean Moulin (1899-1943) in das Pantheon. Paris, Dezember 1964. © LAPI/Roger-Viollet

 

Der Widerstandskämpfer als dominante Gedenkfigur?

All diese Mechanismen sind am Werk und bilden eine Gedenkchronologie die weitaus komplexer ist als die, die man in Schulbüchern liest und aus dem Fernsehen kennt. Lassen Sie uns also die Gedenkregimes aneinanderreihen und dabei bedenken, dass es sich hierbei um Dominanten handelt.

1944-1949. Was immer man also sagen mag, alle Erinnerungen werden wachgerufen und gehört. Sicherlich gibt es stärkere, wie das Gedenken an die Widerstandskämpfer, und schwächere, wie das jüdische Gedenken. Die Erinnerung an die Zwangsarbeiter ist zwar schwach, aber doch präsent. Die Vichyisten konnten damals nur „existieren", indem sie für sich beanspruchten, eine Komponente des Kampfes der Franzosen gegen die Besatzer zu sein. Aber natürlich war die starke Erinnerung unter allen anderen die der Widerstandskämpfer. Nachdem de Gaulle bis 1946 an der Macht und von allen Kreisen der Résistance umgeben war, stellte diese Figur offensichtlich die erste dar, die mobilisiert werden konnte, um das Land wieder aufzubauen und ihre Präsenz in der Welt zu behaupten.

1949-1957. Die Situation verändert sich Ende der 1940er Jahre vollständig. Doch machen wir uns nichts vor: Alle Erinnerungen an den Krieg brechen zusammen, auch die Erinnerung an die Résistance, die allerdings von ganz oben ausging. Der Kontext wird vergessen. Auf der Tagesordnung stehen zwei große Ereignisse, die sich durchsetzen und ein neues Gedenkregime erzwingen werden: der Kalte Krieg und die Kolonialkriege. Es muss nicht betont werden, dass sich ab 1947 eine neue geopolitische Landschaft abzeichnete. Zwei Beispiele, um die Folgen dieses Umbruchs zu ermessen: Der zur Priorität gewordene Kampf gegen die Sowjetunion und die unter Vormundschaft stehenden Länder führte in Frankreich nach dem Ausscheiden der Kommunisten aus der Regierung zu einer Verhärtung der nationalen Politik gegenüber ausländischen kommunistischen Widerstandskämpfern. So wurde die Kommunistische Partei Spaniens 1950 aufgelöst und viele ihrer Aktivisten ausgewiesen. Auf Seiten des Sowjetblocks trug die Tatsache, dass bei den großen Prozessen gezielt ehemalige Kader des ausländischen kommunistischen Widerstands in Frankreich ins Visier genommen wurden, zur Verwirrung bei. Der Name Artur London fasst diese Trübung des Gedenkens zusammen: In den 1950er Jahren wurde ein ganzer Zweig des kommunistischen Widerstands von der KPF selbst zum Schweigen verurteilt. Doch zum Kalten Krieg kamen natürlich auch die Kolonialkriege hinzu. Zwischen dem Indochinakrieg und dem Algerienkrieg standen kaum Themen auf der Tagesordnung, bei denen es um Erinnerungskämpfe bezüglich des Zweiten Weltkriegs ging. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Gedenkregime der 1950er Jahre durch eine Schwächung all seiner Komponenten gekennzeichnet ist. Wobei wir hier differenzieren. So war die Erinnerung an die Deportation der Juden zwar relativ gering, aber man sollte nicht die Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank vergessen, das in den 1950er Jahren auch in Frankreich ein phänomenaler Erfolg war.

1958-1969. Als General de Gaulle 1958 an die Macht zurückkehrt, verdankt er seine Legitimität einem Ereignis: dem Aufruf vom 18. Juni 1940. Alles andere ist die Folge dieser unglaublichen Aktion. Er wird daraufhin zur treibenden Kraft einer offensiven Gedenkpolitik, die die Figur des Widerstandskämpfers in den Mittelpunkt des neuen Gedenkregimes stellt. Nichts ist symbolträchtiger als die Aufnahme von Jean Moulin in das Pantheon am 19. Dezember 1964. Diese Zentralität der Figur des Widerstandskämpfers ist umso stärker, als die größte Oppositionspartei, die Kommunistische Partei, eine völlig gleichgerichtete Gedenkpolitik verfolgt.

Die Erinnerungsarbeit erwächst aus der Zivilgesellschaft

1969-1984. Un nouveau régime mémoriel s’ouvre avec le départ du général en 1969 et, un an plus tard, son décès. Mais ce n’est pas du tout la figure de la victime juive qui prédomine. Pas encore. On met souvent en avant Robert O. Paxton et sa France de Vichy (1972 aux États-Unis, traduction française 1973) et Serge Klarsfeld et son travail d’avocat, d’historien et de militant de la mémoire. Mais ce qui prédomine alors et dont témoignent des documentaires comme le Chagrin et la pitié et plus encore Français si vous saviez, c’est l’image d’une France veule, lâche, largement collaboratrice. C’est en quelque sorte la légende noire qui semble alors s’imposer. Mais la référence à la persécution des Juifs est encore marginale. Pour autant la figure (négative) de Vichy émerge bien dans ce contexte.

 

Beate Klarsfeld, militante

Die Erinnerungsaktivistin Beate Klarsfeld in den 1970er Jahren vor der deutschen Botschaft in Frankreich. Gemeinsam mit ihrem Mann Serge Klarsfeld setzte sie sich militant für die Anerkennung des Holocaust und der Verantwortung der an seiner Durchführung beteiligten Menschen ein.
© Heritage-Images/Keystone Archives/akg-image

 

1985-2007. Die Figur des jüdischen Opfers setzt sich viel später durch, als allgemein angenommen wird. Der Mechanismus, der hier am Werk ist, ist übrigens interessant, denn im Gegensatz zu 1958 entsteht die Arbeit aus der Zivilgesellschaft, aus dem Gedenk- und Justizaktivismus von Serge Klarsfeld, aus seinem historischen Doppelwerk über Vichy-Auschwitz (1983 und 1985) und dem von Marrus und Paxton über Vichy und die Juden (1981). Danach wird das Thema über Medien wie das Fernsehen und insbesondere über Jean-Marie Cavada an die Öffentlichkeit gebracht. Vor dem Hintergrund des Barbie-Prozesses wird dann die französische Gesellschaft erobert. Der Staat sollte erst zehn Jahre später mit der berühmten Rede von Jacques Chirac dazukommen. Verständlicherweise ist die Vichy-Figur immer noch da und sogar noch negativer als je zuvor. Sie konzentriert sich jedoch auf eine einzige Komponente ihrer Politik: ihren Beitrag zur Deportation der Juden aus Frankreich.

2007-2021. Es geht aber noch weiter. Unter dem Druck enger Souveränisten wie Henri Guaino und Max Gallo skizzierte Nicolas Sarkozy eine neue Gedenkstättenregelung, die stärker auf das Bild des Widerstandskämpfers abzielt. Simone Veil und Serge Klarsfeld waren jedoch wachsam und misstrauten den Souveränisten, aber auch den Initiativen des neuen Präsidenten, von denen man sagen kann, dass sie unklar waren. Dennoch wurde ein Prozess in Gang gesetzt und mit seinem Nachfolger setzte sich in der Tat eine Form der Erinnerungskonvergenz durch, die dann unter dem 2012 gewählten François Hollande zur Regel wurde. Als Beispiel seien hier zwei Höhepunkte genannt: die Einweihung der Gedenkstätte Drancy im September 2012 und die Pantheonisierung von vier Widerstandskämpfern, zwei Frauen und zwei Männern, im Mai 2015.

 

Cérémonie du 70e anniversaire

Zeremonie zum 70. Jahrestag der Razzia vom Vél d'Hiv, Gedenkstätte Drancy, 16. Juli 2012. © Bertrand Guay/AFP

 

Wir haben es also mit sechs aufeinanderfolgenden Gedenkregimen zu tun, weit entfernt vom binären Schema, das nach wie vor die Regel ist. Und dennoch mussten wir die Zahl der unnötigen Verweise begrenzen, um den oft komplexeren Charakter der einzelnen Abschnitte besser zu verdeutlichen. Und wir haben noch nicht abschließend geklärt, welchen Weg wir mit Emmanuel Macron eingeschlagen haben. Man erkennt deutlich den Willen, das Bild des Widerstandskämpfers in einer globalen Botschaft herauszustellen, die mobilisierend und wertschätzend sein soll. Man sieht auch, dass die Terroranschläge das Dilemma sehr deutlich veranschaulichen. Die Anschläge vom November 2015 hatten ganz offensichtlich die Figur des Opfers in den Vordergrund gerückt. Doch ob Polizei, Feuerwehr oder Pflegepersonal, ob Nachbarn, die ihre Türen öffneten, oder Notfallhelfer - wenn man sieht, wie sehr die gegenseitige Hilfe über die Selbsthilfe gesiegt hat, gibt es durchaus Raum für die Gestalt des Helden. Das Attentat, das Arnaud Beltrame das Leben kostete, und die anschließende Ermordung von Samuel Paty, der mehr Held als Opfer war, weisen auf einen anderen Weg hin. Dieser Zusammenhang mit den Attentaten ist bewusst gewählt, ebenso wie der Bezug auf Covid-19, im Rahmen dessen das kollektive Gedenken in der Gegenwart des Ereignisses um die Figur des pflegenden Helden herum entsteht. Dies zeigt in der Tat, dass eine doppelte Erweiterung notwendig ist: Man kann die segmentierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Erinnerung an den Widerstand oder die Judenverfolgung, nicht vollständig verstehen, wenn man nicht alle Komponenten berücksichtigt; und man kann die Sprunghaftigkeit des kollektiven Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg nicht vollständig verstehen, wenn man sich nicht anschaut, was es mit den Bewegungen des kollektiven Gedenkens in anderen Themenbereichen auf sich hat. Ähnlich wie bei Arbeiten aus den so genannten harten Wissenschaften kann man auf diese Weise sicher sein, dass das, was man sieht, nicht auf ein Segmentierungsartefakt zurückzuführen ist und dass man keine Erklärungsansätze verliert, die über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand hinausgehen.

 

Denis Peschanski - Forschungsleiter beim CNRS