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Der Platz der Zeitzeugen

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Jean Monin, überlebender Internierter von Montluc und des Lagers Mauthausen, berichtet Schülern während eines Besuches des ehemaligen Gefängnisses von Montluc, 16. Dezember 2014. © Gedenkstätte von Montluc

Die Gedenkfeiern räumen den Zeitzeugen der gedachten Ereignisse einen besonderen Platz ein. Heute ist der Augenzeugenbericht nicht nur ein „szenografisches Mittel“, sondern erscheint als unerlässliches Element der Gedenkhandlung und der vorausgehenden Gedenkarbeit bei seiner Ritualisierung am Tag der Zeremonie.

Corps 1

Zeitzeugen der Konflikte, Kämpfer und zivile Opfer haben eine Sonderstellung in den nationalen und lokalen Gedenkfeiern inne, die vom Verteidigungsministerium und seinen Partnern vor Ort wie den Präfekturen, den Gemeinden oder auch dem nationalen Büro der Kriegsveteranen und -opfer (ONACVG) sowie seiner Verbände veranstaltet werden. Die Feierlichkeiten richten sich als Momente der Würdigung und Anerkennung oft an sie, die durch ihre Anwesenheit die geschichtliche Verankerung verkörpern. Ihre Rolle oder ihre moralische Autorität kann jedoch über diesen Rahmen hinausgehen. Die Zeitzeugen sind oft Akteure der Gedenkmomente oder bei ihrer Vorbereitung, helfen aber auch der Gesellschaft, einen Prozess einzuleiten, der den Teilnehmern ermöglicht, von der Gedenkarbeit zur richtigen, aufrichtigen und verantwortungsvollen Besinnung überzugehen. Die Maßnahmen, die von den hier durch die nationale Gedenkstätte des Gefängnisses von Montluc vertretenen Gedenkstätten durchgeführt wurden, und die anwesenden Akteure bei den nationalen Feierlichkeiten, wie jenen, die der Landung in der Normandie gedenken, sind zwei Beispiele von vielen für diesen besonderen Platz.

„Das Wort in einem Gedenkritual festhalten“

Die nationale Gedenkstätte des Gefängnisses von Montluc befindet sich innerhalb der Mauern des ehemaligen Gefängnisses. Die Strafanstalt, die 2009 abgerissen werden sollte, öffnet 2010 wieder ihre Pforten und ermöglicht so dem Publikum, seine Geschichte kennenzulernen, aber auch den Überlebenden, an den Ort ihrer Internierung von 1943-1944 zurückzukehren. Nach diesem ersten Schritt, der manchmal schwer war, wurden die Überlebenden bald zu Zeitzeugen. Sie setzen sich bei den Gedenkfeiern voll für diese Rolle ein, insbesondere bei den jährlichen Feiern am 24. August, dem Jahrestag der Befreiung des Gefängnisses, zu dem sie gehörten. Sie verkörpern daher die Erinnerungen an den Ort. Die Bestimmung einer Gedenkstätte und ihrer Zeitzeugen beschränkt sich jedoch nicht darauf, dass die Überlebenden an den wichtigen Daten des Gedenkkalenders anwesend sind, so symbolisch dies auch sein mag. Die Überlebenden werden in Montluc, an den Orten, wo ihr Leben aus den Fugen geriet, als eigenständige Akteure gezeigt, denn wie sollte man ihre Anwesenheit bei den Feierlichkeiten verstehen, ohne ihren Werdegang und die Bedeutung des Ortes zu kennen?

Bald schon ging der Wunsch, ihre Geschichte zu vermitteln, über den Gedenkrahmen hinaus, um ihm vorauszugehen. Die jungen Generationen haben durch die Begegnungen zwischen Publikum und Zeitzeugen die Möglichkeit, das Ausmaß dieser Gedenkstätte voll zu erfassen. Dazu wird ihnen die Gelegenheit zum Erkunden, Verstehen und Austausch geboten, um besser gedenken zu können. Somit wohnt das Publikum, insbesondere die Jugend, einer Feier bei und lässt sich auf einen Prozess ein, der Besinnung, Einsicht und das Hinterfragen vereint. Ein solcher Prozess ermöglicht jenen, die sich auf diese Gedenkarbeit einlassen konnten, zu Vermittlern von Worten zu werden, ohne jemals die Zeitzeugen zu ersetzen, die sie getroffen haben. Für die nationale Gedenkstätte des Gefängnisses von Montluc ist es daher entscheidend, diesen Weg und diese Bewusstwerdung zuzulassen, damit der Ort seine Gedenkrolle voll übernimmt und zur Dialogstätte dieser unterschiedlichen Generationen wird. Der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und zur Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit am 27. Januar ist ein anschauliches Beispiel für diese Arbeit. Bei einem Festakt versammeln sich an der Seite der Vertreter von Behörden und der Militärszene mehr als 200 Jugendliche aus Lyon, darunter die Gedenkbotschafter der Gedenkstätte. Jeder von ihnen verfügt dabei über die Schlüssel zum besseren Verständnis, um die Geschichte des Ortes, an dem er sich befindet, das Wort des Zeitzeugen, das erschallt, sowie das Symbol der Gedenkmomente, an denen er teilnimmt, voll zu erfassen. Gedenkmomente, die an anderen Gedenkstätten von Zeitzeugen und Botschaftern geteilt werden, die sich versammeln, um sich an die Vergangenheit zu erinnern und die Wachsamkeit zu beweisen, damit wir diese nie wieder erleben müssen. In einer Zeit, in der es bald keine Zeitzeugen bestimmter Konflikte mehr gibt, ist es wichtig, dass es diesen Gedenkveranstaltungen und -stätten gelingt, diese wichtigen Worte zu verbreiten, um sie im Gedenkritual besser zu verankern.

Friedensbotschaften der Veteranen der Normandie

In der Normandie besteht eine besondere, fast schon körperliche Verbindung zwischen dem Publikum, das aus der ganzen Welt anreist, um bei den Gedenkfeiern dabei zu sein, und den Veteranen der alliierten Nationen, die echte VIP dieser Treffen sind. Bei den großen Feierlichkeiten zum 70. und sogar zum 75. Jahrestag der Landung in der Normandie 2014 und letztes Jahr, waren sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters in ziemlich großer Zahl vertreten und einige von ihnen eigenständige Akteure der Gedenkfeiern.

Diese aktive Beteiligung am Ablauf der Feiern begann in der Normandie schon sehr früh. Wir erinnern uns in Ergriffenheit an die Botschaft der Hoffnung und des Friedens an die jungen Generationen, die 2004 vom ehemaligen freiwilligen Widerstandskämpfer Jacques Vico bei der internationalen Feier zum 60. Jahrestag der Landung in Arromanches (Calvados) im Beisein der alliierten Staats- und Regierungschefs, und erstmals der deutschen, ausging.

Am beeindruckendsten war jedoch vielleicht die Szene, die sich am Strand von Ouistreham (Calvados) am Ende der internationalen Feier am 6. Juni 2014 abspielte: Der französische Veteran des Kieffer-Kommandos Léon Gautier und der deutsche Fallschirmjägerveteran Johannes Börner umarmten sich vor 19 Staats- und Regierungschefs, 1.800 Veteranen, 6.000 geladenen Gästen und mehr als einer Milliarde Fernsehzuschauer. Die brüderliche Geste der Feinde von früher und Brüder von heute bleibt allen in Erinnerung und steht für den Geist, der heute bei der Erwähnung des 6. Juni 1944 vorherrscht.

 

Léon Gautier, ancien  du commando Kieffer,  et Johannes Börner, ancien soldat allemand, à la  cérémonie internationale  du 70e anniversaire du  débarquement de Normandie. © P. Villebeuf/Le Parisien/MAXPPP

 

Léon Gautier, ehemaliger Angehöriger des Kieffer-Kommandos, und Johannes Börner, ehemaliger deutscher Soldat, bei der internationalen Feier zum 70. Jahrestag der Landung in der Normandie.
© P. Villebeuf/Le Parisien/MAXPPP

 

Es ist auch interessant festzustellen, dass es vor Beginn der offiziellen Veranstaltung, der durch die Ankunft der Staats- und Regierungschefs gekennzeichnet ist, auch eine Form der weltlichen Verbundenheit zwischen den Veteranen und dem Publikum gibt, das ihnen zu Ehren gekommen ist. So ist es am amerikanischen Friedhof von Colleville-sur-Mer in Omaha Beach der Brauch, namentlich jeden anwesenden Veteranen aufzurufen und die Einheit, der er 1944 angehörte, sowie seine geografische Herkunft zu nennen. Dieser Ablauf außerhalb der offiziellen Zeit bietet immer die Gelegenheit, jeden dieser Helden zu bejubeln und ihn einzeln zu würdigen.

Am Ende des Gedenkablaufs ist es auch Brauch, dass sich die Veteranen gerne für direkte Gespräche mit den Zuschauern bereit erklären, die auch gekommen sind, um sie in Fleisch und Blut zu sehen, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie zu fotografieren, Werke oder T-Shirts signieren zu lassen, ihnen gegenüber ihre Dankbarkeit und Bewunderung zum Ausdruck zu bringen und sie sogar in einer fast mystischen Eigendynamik zu berühren. Manche Szenen ähneln sogar der Begegnung zwischen einem Rockstar und seinen Fans! Auch das kennzeichnet die so besondere Atmosphäre, die am 6. Juni in der Normandie herrschen kann. Diese Gedenkfunktion ist etwas so Besonderes, dass es oft sogar vorkommt, dass auch Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die an anderen Fronten gekämpft haben, oder ehemalige Kämpfer aus Korea oder dem Vietnam am 6. Juni in die Normandie kommen, um diese so besondere kollektive Emotion zu spüren.

 

Gedenkstätte von Montluc, Antoine Grande und Franck Leconte – ONACVG