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„Europäische Vermittler der Erinnerung"

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Ein deutscher Gymnasiast übernimmt auf dem Gelände des Struthofs die Rolle eines Besucherguides für seine Mitschülerinnen und Mitschüler. © CERD-Struthof

Kriege entstehen oft aus gegenseitigen Vorurteilen, Hassgefühlen und dem Wunsch der Bevölkerung nach Rache; Äußerungen, für die die Jugend besonders empfänglich ist. Um diese Kriege zu verhindern, führten die Regierungen Frankreichs und Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg eine ehrgeizige Versöhnungspolitik ein, die sich auf den Jugendaustausch konzentrierte. Eine Initiative, die seither nie aufgehört hat zu bestehen und mittlerweile eine europäische Ausrichtung umfasst.

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Die Jugend spielt in grenzüberschreitenden Versöhnungsprozessen oft eine besondere Rolle - das ist in Europa, insbesondere in der deutsch-französischen Beziehung, nicht anders. Denn sie hat die historischen Konflikte zwar nicht als Opfer oder Täter erlebt, wurde aber dennoch in ihren jeweiligen Gesellschaften durch eine bestimmte, oftmals nationale Sichtweise bezüglich dieses Konflikts geprägt. Wenn die unterschiedlichen Sichtweisen im Rahmen eines konstruktiven Dialogs miteinander diskutiert werden, kann dies für die Gegenwart und Zukunft der Teilnehmer vieles verändern. Dieser Austausch erzeugt auch weit über die tatsächliche Gruppe der Teilnehmer hinaus einen positiven Effekt auf den Aufbau des Gedenkens in den Gesellschaften.

Die zentrale Frage in diesem Beitrag ist, wie und an welchen Orten internationale Jugendbegegnungen eine Rolle bei der Versöhnung und gemeinsamen Erinnerung zwischen Frankreich und Deutschland, aber auch allgemein in Europa, spielen. Um eine Antwort zu umreißen, können drei Blickwinkel herangezogen werden: Zunächst ist eine kurze historische Einordnung der Entwicklung der deutsch-französischen Gedenk- und Versöhnungsarbeit auf Jugendebene vorzunehmen. Es folgt eine Diskussion über aktuelle Projekte und praktische Aspekte solcher Begegnungen, gefolgt von der Ausarbeitung von fünf möglichen programmatischen Kriterien für einen solchen Austausch. Das Thema steht hier in einem Spannungsfeld: Es unterliegt den Ergebnissen der bisherigen Forschung zu internationalen Jugendbegegnungen zu historischen Themen und an historischen Orten, wird aber gleichzeitig von der Praxis dieser Begegnungen beeinflusst und versucht, konkrete Perspektiven zu entwickeln.

 

Deutsch-französisches Jugendlager / Camp de la Jeunesse franco-allemande Berlin 1964

Deutsch-französisches Jugendlager / Camp de la Jeunesse franco-allemande Berlin 1964, Bundesbildstelle, Bonn, 1964. © OFAJ/DFJW

 

Auf den Spuren der deutsch-französischen Jugendbegegnungen

„Versöhnung" ist das Schlagwort, das immer wieder als großes Motto beschworen wird, unter dem sich die Arbeit des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) abspielt. In gesellschaftspolitischer Hinsicht ging es darum, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägte Vorstellung einer „Erbfeindschaft" zwischen den Nachbarländern zu überwinden. Die Idee, sich im Rahmen von Jugendbegegnungen auszutauschen, um als Motor dieser Versöhnung zu dienen, besteht in diesem Zusammenhang nicht erst seit dem Ende des Krieges, wie der französische Historiker Mathias Delori in seiner grundlegenden Studie zu diesem Thema nachwies.

Im Gegenteil: Bereits in den 1870er Jahren gab es verschiedene politische Initiativen für die Jugend. Diese setzten sich zum Beispiel für den internationalen Frieden ein oder standen in Opposition zu nationalistischer Propaganda. Diese traditionellen Linien verschmolzen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum deutsch-französischen Engagement von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, das den Austausch im Rahmen von Jugendbegegnungen veränderte. Das DFJW und andere wichtige Institutionen wurden dann tatsächlich im Zuge des Élysée-Vertrags von 1963 geschaffen. So wurde der deutsch-französische Versöhnungsprozess auch zu einem Modell für Europa, worauf wir später noch näher eingehen werden.

In den ersten Jahren der Tätigkeit des DFJW war vor allem die Verwirklichung des Aspekts der Begegnung für eine möglichst große Zahl von Jugendlichen entscheidend für den Gedanken der Versöhnung. Eine historische Aufarbeitung der von Konflikten und insbesondere vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vergangenheit spielte in den Programmen der verschiedenen Treffen zwar eine Rolle, war aber keine Vorbedingung. In den Jahren nach den Ereignissen vom Mai 1968 wurden diese Themen jedoch in beiden Ländern immer wieder neu beleuchtet und zunehmend in einen europäischen Kontext gestellt.

Ab den 2000er Jahren wurde das Verständnis des Ursprungs der Versöhnung selbst von den Verantwortlichen immer mehr in Frage gestellt: Der ehemalige stellvertretende Generalsekretär des DFJW, Michel Cullin, erinnerte daran, wie wichtig es ist, nicht nur immer wieder diesen (erfolgreichen) Versöhnungsprozess und die deutsch-französische Freundschaft zu feiern, sondern auch in einen Austausch über eine gemeinsame und zugleich trennende Vergangenheit einzutreten. In dieser Zeit wurden auch verstärkt Programme zum Widerstand organisiert und gefördert, die sich auf das deutsche Exil in Frankreich bezogen.

Auch tri-nationale Programme spielten ab den 1990er Jahren eine immer größere Rolle - zunächst mit Partnern aus Mitteleuropa, später auch aus Südosteuropa und Nordafrika. Diese Begegnungen boten die Gelegenheit, sich eingehender mit historischen Themen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu befassen - insbesondere in trilateraler Zusammenarbeit mit Polen. Ein Beispiel hierfür ist eine Reihe von drei Treffen, die zwischen 2002 und 2004 in Paris, Berlin und Krakau stattfanden. Schülerinnen und Schüler aus den drei Ländern machten nicht nur interkulturelle Erfahrungen, sondern stellten gemeinsam Fragen an Zeitzeugen und besichtigten Gedenkstätten und Denkmäler wie das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Die Arbeit in Bezug auf historische Fragestellungen und das Gedenken wird hier oft durch einen Bezug zum aktuellen Kontext ergänzt, wodurch sie noch einmal eine andere Relevanz für die Gegenwart und die Zukunft erhält. Das erwähnte Treffen bot beispielsweise die Gelegenheit, die Vorurteile zu untersuchen, die die Teilnehmer jedes Mal gegeneinander hegten - im Gegensatz zu den tatsächlichen Erfahrungen, die sie im Rahmen des Austauschs gemacht hatten. Derzeit spielen Fragen zu Demokratie, Menschenrechten und europäischer Integration bei ähnlichen Projekten regelmäßig eine wichtige Rolle.

 

Remise des prix du concours d’histoire scolaire franco-allemand 2014/15 au Mémorial Alsace Moselle

Preisverleihung des deutsch-französischen Schulgeschichtswettbewerbs 2014/15 in der Gedenkstätte Elsass Moselle (Schirmeck). © Alex Flores

 

Die Geburtsstunde ähnlicher Initiativen

Der „Erfolg" des Deutsch-Französischen Jugendwerks inspirierte auch zur Schaffung vergleichbarer Einrichtungen. Dies gilt insbesondere für das Deutsch-Polnische Büro, das seit seiner Gründung 1991 der historisch-politischen Bildung einen hohen Stellenwert einräumt und dabei vor allem die Jahre 1933 bis 1945 in den Vordergrund stellt. Zwar werden etwas andere Akzente gesetzt als beim DFJW, und auch die gewählten Methoden unterscheiden sich manchmal - der Gedanke, dass zwei benachbarte, ehemals verfeindete Staaten in Europa durch Jugendbegegnungen zu einer Versöhnung finden, ist jedoch gleich geblieben. Die Erinnerungsarbeit beider Organisationen weist zudem viele Parallelen auf und hat auch gemeinsame Projekte und Fördermaßnahmen hervorgebracht, wie die drei oben erwähnten Treffen in Paris, Berlin und Krakau.

Auch neuere europäische Projekte, die ebenfalls vom DFJW inspiriert wurden, sind zu nennen: Dazu gehören unter anderem das Regional Youth Cooperation Office in den westlichen Balkanländern oder das Jugendwerk, das derzeit zwischen Deutschland und Griechenland oder Deutschland und Israel aufgebaut wird. Auch hier spielen Versöhnung und Gedenken eine wesentliche Rolle. Diese Treffen finden oft an historischen Orten statt, an denen Konflikte oder (Massen-)Massaker stattgefunden haben, und bieten den Teilnehmern die Möglichkeit, sich über diese Themen auszutauschen.

Im Rahmen der deutsch-französischen Jugendbegegnungen spielte der 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs im vergangenen Jahrzehnt eine gewichtige Rolle; junge Menschen wurden nicht nur in Gedenkveranstaltungen, z. B. in Verdun, eingebunden, sondern waren auch selbst aktiv. Dies ist sicherlich ein Anlass, eine Reihe von Großveranstaltungen und kleineren Begegnungen hervorzuheben, wie sie auch im Interview mit dem DFJW für diese Sonderausgabe (S. 140-145) thematisiert wurden, und darüber hinaus praktische Beispiele zu geben, die über diesen Rahmen hinausgehen. Ein besonderes Format hat der deutsch-französische Geschichtswettbewerb Eustory France gewählt, der sich seit seiner Pilotveranstaltung 2012 mit der Methode des investigativen Lernens für eine multiperspektivische Auseinandersetzung aus lokal- und regionalhistorischer Perspektive einsetzt. Die vier Ausgaben des Wettbewerbs, die von 2014 bis 2019 stattfanden, hatten den Ersten Weltkrieg zum Thema. Der Wettbewerb bietet französischen Lerngruppen zusammen mit deutschen Mitschülern die Möglichkeit, an einem gemeinsamen oder vergleichbaren Beitrag zu arbeiten. Die Preisträger haben dann die Möglichkeit, sich für eine internationale Begegnung zu historischen Themen beim Netzwerk Eustory zu bewerben, in dessen Rahmen Organisationen der Zivilgesellschaft Wettbewerbe mit Teilnehmern aus über 20 europäischen Ländern veranstalten. Auch hier wird die Europäisierung des Gedenkens durch den Jugendaustausch greifbar.

Weitere praktische Beispiele beziehen sich auf Ressourcen, die sowohl den Teilnehmern als auch den Auftraggebern solcher Treffen zur Verfügung stehen: In den letzten Jahren wurden u. a. ein pädagogischer Leitfaden über die Geschichte und Erinnerung der Jugendbegegnungen (2015) und ein Handbuch über den Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (2016) in deutscher und französischer Sprache veröffentlicht. Es gibt außerdem Weiterbildungsangebote, die die Verbreitung spezifischer Ressourcen ermöglichen und sie so für die Zukunft nutzbar machen. Es zeigt sich aber auch die Notwendigkeit einer pädagogischen Unterstützung bei solchen Jugendbegegnungen: Diese Themen werden zwar von beiden Seiten als wichtig erachtet, wobei aber zu bedenken ist, dass es Lehrern oft schwer fällt, sich für ein solches Thema zu entscheiden, wenn sie kein Geschichtsstudium absolviert oder Vorerfahrungen gemacht haben. Für eine erfolgreiche Jugendbegegnung ist es daher sinnvoll, neben der Bereitstellung von Unterlagen auch mit pädagogischen Fachkräften von Museen, Gedenkstätten oder in diesem Bereich tätigen Vereinen zusammenzuarbeiten.

 

collégiens à Buchenwald

Fahrt von Schülern der Mittelstufe aus dem Département Pas-de-Calais nach Buchenwald.
© La Coupole, Centre d’Histoire et de Mémoire du Nord–Pas-de-Calais

 

Einige Schlüssel zum Erfolg

Ausgehend von diesen historischen Überlegungen und praktischen Beispielen, die als „Best Practices" betrachtet werden können, ist es wichtig, mögliche Kriterien für einen erfolgreichen europäischen Jugendaustausch zu historischen Themen herauszustreichen. Von der Vorbereitung der Orte, Formate und Eckpunkte dieser Treffen bis hin zu den moralischen Grundlagen gibt es viel zu diskutieren und zu berücksichtigen.

Fünf Aspekte können vorrangig herausgestellt werden:

  1. Vor- und Nachbereitung: Es ist wichtig, die jungen Menschen intensiv auf die entsprechenden Begegnungen vorzubereiten. Dabei geht es zum einen um die Vertrautheit mit der „eigenen" Geschichte, zum anderen um eine emotionale Vorbereitung, insbesondere beim Besuch von Orten, an denen Konflikte und Massaker stattgefunden haben.
  2. Authentizität der Orte: Internationale Jugendbegegnungen setzen voraus, dass mindestens eine Gruppe ihre vertraute Umgebung verlässt. Der Lerneffekt ist jedoch umso größer, je öfter die Gruppen den Ort wechseln (manchmal mit Hin- und Rückbegegnungen) und Orte aufsuchen, an denen vergangene Ereignisse stattgefunden haben, selbst wenn diese Orte in ihrem „historischen Originalzustand" erhalten geblieben sind. Die Wiederentdeckung vertrauter Orte vor dem Hintergrund der Geschichte, die dort geschrieben wurde, ist dann sehr bereichernd.
  3. Aktive und kreative Aneignung: Jugendbegegnungen sind besonders wirkungsvoll, wenn eine möglicherweise abstrakte Geschichte zur persönlichen Geschichte wird. In Frankreich gibt es beispielsweise ein familiengeschichtliches Gedenken, das deutlich stärker ausgeprägt ist, als dies in vielen deutschen Familien der Fall ist. Eine Recherche über die Familie oder die Menschen am eigenen Wohnort kann jedoch viele Prozesse greifbarer machen. Ein solcher Rechercheansatz macht zudem die Teilnehmer aktiv. Wenn diesem Ansatz dann noch eine kreative Umsetzung in Form eines Films, einer Ausstellung, eines Kunstwerks oder Ähnlichem folgt, ist der interkulturelle Lernprozess oft besonders nachhaltig.
  4. Bezug zur Gegenwart und zur Erfahrungswelt: Diese Aneignung des Themas wird in Jugendbegegnungen noch durch eine aktuelle Dimension ergänzt, die darin besteht, darüber zu diskutieren, wie die Medien mit der Vergangenheit und der Gegenwart umgehen (z. B. Fake News, Verschwörungstheorien usw.), oder auch über Themen wie Demokratie, Diskriminierung oder Ausgrenzung. Diese Verknüpfungen sind im Sinne der Geschichtsvermittlung sehr wertvoll, wobei es dennoch wichtig ist, historische Entwicklungen und die Gegenwart nicht auf eine Stufe zu stellen.
  5. Den Schwerpunkt auf Verständnis und Erinnerung legen: In der Vergangenheit hat sich zudem zunehmend die Überzeugung durchgesetzt, dass das Ziel solcher Begegnungen nicht darin bestehen kann und sollte, junge Menschen zu „Versöhnungsgesten" oder Ähnlichem zu bewegen. Die Jugendlichen von heute tragen letztlich keine direkte Verantwortung für die Taten ihrer Vorfahren und können und sollen sich daher auch nicht „entschuldigen". Aus diesem Grund müssen die Begegnungen auf gegenseitiges Verständnis hinwirken; schließlich ist auch auf dieser Ebene ein Erinnern an die Vergangenheit in der Gruppe möglich.

Man könnte die deutsch-französische Versöhnung in Form von Jugendprojekten als „Schnee von gestern" bezeichnen - schließlich haben diese Initiativen eine lange Tradition. Allerdings zeigt sich an dieser Geschichte auch, dass solche Jugendbegegnungen inhaltlich und methodisch immer wieder neu überdacht und weiterentwickelt werden müssen - wozu die fünf formulierten Kriterien nur einen möglichen Beitrag leisten. Festzuhalten bleibt jedoch das enorme Potenzial solcher Begegnungen für das Gedenken und ihre Relevanz für Gegenwart und Zukunft.

 

Gregor Christiansmeyer - Student der Geschichte und Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen
Aus dem Deutschen übersetzter Text