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Fassungen in la Marseillaise unter deutscher Besatzung

Sous-titre
Hymne und eine Fahne für beide Frankreich

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Bernard RICHARD - Approches de la Marseillaise sous l’Occupation allemande : Un hymne et un drapeau pour deux France.

Unter der Besatzung gedeiht die Hymne in allen Bereichen des politischen Lebens. Das Freie Frankreich, der Französische Staat von Vichy, zumindest in der als frei bezeichneten bzw. nicht besetzten Zone.

Corps 1

Sie gehört zu den Liedern des Widerstands, der Gegner von Pétain, von Hitler. Häufig wird sie von den zu Tode verurteilten Widerständlern, ob der Linken oder der Rechten zugehörig, vor dem Exekutionskommando gesungen. Aber auch von den Soldaten des Marschalls ertönt häufig die Hymne, insbesondere anlässlich offizieller Zeremonien, bei den bei der Rumpfregierung so begehrten Paraden, die immer mehr an Unabhängigkeit verliert, wenn sie diesen Status überhaupt jemals innehatte. Die Marseillaise von den Befehlsgewalten Vichys "tatsächlich" "feierlich" und überschwänglich, von Anfang bis Ende, in der als frei bezeichneten Zone eingesetzt. Als Marschall Pétain schließlich von der Besatzungsmacht die Erlaubnis erhält, nach Paris zu gehen, um die Bombardierung durch die Alliierten zu bedauern und zu verurteilen, wird er Ende April 1944 von einer Menschenmasse empfangen, die weniger dem Marschall applaudiert, als vielmehr der Tatsache, dass nach unzähligen Jahren der Hungersnot, die Fahnen der Trikolore das Hakenkreuz verdrängen, ebenso wie die typische Dienstmütze der Franzosen die omnipräsenten deutschen Helme ablösen und endlich die Marseillaise ertönt, die seit Beginn der Besatzung in der besetzten Zone verboten war...

 

Diesen Aspekt werden wir später näher beleuchten, wenn wir uns mit den Les fêtes du maréchal beschäftigen (von Rémi Dalisson, CNRS Verlag, Reihe Biblis).

 

Am 22. Oktober 1941 werden in der Nähe von Châteaubriant 27 der von den Deutschen ausgewählten Geiseln, zweifelsohne mit Hilfe von Pierre Pucheu, Innenminister des Marschalls (der 1943 in Algier für diese Tat erschossen wird) in drei deutschen Lkws aus dem Lager von Choisel abtransportiert und später in der Nähe erschossen. Unter ihnen auch der 17-jährige Guy Môquet, inhaftiert durch Vichy, weil er im Oktober 1940 in Paris kommunistische Flugblätter verteilt hatte. Sie werden am 20. Oktober hingerichtet, als Antwort auf den durch die Widerstandskämpfer ermordeten deutschen Kommandanten in Nantes. Während ihres Abtransports singen die Geiseln die Marseillaise, in die alsbald alle im Lager verbliebenen Gefangenen einfallen, und „während der ganzen Fahrt bis zum Steinbruch in Soudan haben sie nicht aufgehört zu singen: L’Internationale, Le Chant du Départ sowie die Marseillaise… Und vor jeder Salve ist ihr Ruf zu hören: ”Vive la France!’’ " (Worte des Chefs der örtlichen Kommandantur an den stellvertretenden Präfekten von Châteaubriant, Bernard Lecornu, veröffentlicht in Un Préfet sous l’occupation allemande, Châteaubriant, Saint-Nazaire, Tulle, Verlag France-Empire, Paris 1984).

 

Plakat für die Erschossenen von Châteaubriant

 

Mit diesem 22. Oktober 1941 führt der Klang der  Marseillaise und der L’Internationale zu einem wichtigen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Besetzten und der Besatzungsmacht. Viele Jahre später gibt es in zahlreichen Kommunen Frankreichs eine Straße oder einen Platz, der den "Märtyrern von Châteaubriant" gewidmet ist.

 

Bereits am 30. Oktober kursiert im Untergrund das Gedicht "Châteaubriant ! Choisel! ", geschrieben am selben Ort, von einem anonymen Zeugen, und das sich in Windeseile verbreitet (veröffentlicht in der Zeitschrift Europe Nr.  543-544, 1974, "La Poésie de la Résistance", S. 218):

 

Châteaubriant! Choisel!  Carrière sanglante! (Welch blutige Laufbahn!)

Des camions… des soldats… Des moteurs grinçants… grondent… (Lkws...Soldaten...quietschende Motoren...etwas braut sich zusammen)

Je risque un œil… Je vois Timbaud, Ténine… Ils montent (Ich riskiere einen Blick...Ich sehe Timbaud, Ténine...sie steigen ein)

Dans le triste fourgon, mains liées ; mais leurs voix (im traurigen Kastenwagen halten sie sich an den Händen; aber ihre Stimmen)

Libres, frappant près d’eux  tous les chiens aux abois ! (Frei, sie bringen die Hunde in Bedrängnis!)

 

Soudain, La Marseillaise und L’Internationale.

Ils nous chantent leur foi ! (Sie singen zu uns in festem Glauben!) C’est la lutte finale (Das ist der letzte Kampf)

Le camp répond. (Das Lager stimmt ein.) Le chant monte, s’enfle, grandit… (Der Gesang wird lauter, er schwillt an, immer mehr...)

Ils partent… Les rumeurs s’estompent, c’est fini. (Sie fahren ab...die Gerüchte verblassen, es ist vorbei.)

 

Vite on se rue dehors, on pleure, on chante, on crie. (Schnell nach draußen, Weinen, Singen, Schreie.)

Ils en ont pris vingt-sept ! et comble d’infamie ; (27 haben sie mitgenommen! Die Luft füllt sich mit dieser Schandtat;)

L’un de dix-sept ans à peine et trois moins de vingt ans. (Einer ist grade mal 17 und 3 jünger als 20.)

Acte digne d’un tueur et non d’un conquérant. (Beachtenswerte Tat eines Mörders, aber nicht eines Eroberers.)

 

Im Folgejahr, am 27. Mai 1942 erinnert Paul Claudel in seinem Brief an Kardinal Gerlier, Erzbischof von Lyon und Primat von de Gaulle, mit heftigen und empörten Worten an diesen dramatischen Vorfall und die Männer, die noch auf dem Weg zum Tod die Nationalhymne sangen. Nach dem Ableben von Kardinal Baudrillart verurteilt er die Haltung der Kirche Frankreichs und nennt ihn einen "leidenschaftlichen Kollaborateur, der geehrt wurde mit atemberaubenden offiziellen und religiösen Begräbnisfeiern […] Aber wenn der Kardinal ans andere Ufer wechselt, trifft er auf die 27 Erschossenen, an der Spitze einer Armee, die täglich größer wird, mit den Waffen am Anschlag und die Spalier steht. Für die Nacheiferer von Cauchon konnte die Kirche Frankreichs nicht genug Weihrauch bekommen. Für die geopferten Franzosen gibt es kein Gebet, keine Geste der Barmherzigkeit oder der Empörung“ (Claudel, Journal, II, 1933-1953, Verlag Gallimard, 1991, S.400-401, zitiert von Philippe Burrin, La France à l’heure allemande, 1940-1944, Verlag du Seuil, Reihe Points Nr. H 238, S.228-229). Es ist bekannt, dass General de Gaulle für das Te Deum in Notre-Dame am 26. August 1944 während der Feier der Befreiung das Erscheinen von Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris, untersagt hatte, weil dieser Anfang Juli 1944 am selben Ort im Rahmen der feierlichen Bestattung des Propagandaminsters von Vichy, dem Verräter Philippe Henriot, der Ende Juni vom Widerstand hingerichtet wurde, eine Messe abgehalten hatte.

 

Viele Berichte aus dieser Zeit der Besatzung rufen die Rolle der Nationalhymne ins Gedächtnis. Jean Guéhenno schreibt in seinem Journal des années noires (Verlag Gallimard 1947, Neuauflage als Taschenbuch Nr. 1719, S. 420-421): " 3. November 1943. Die Deutschen erschießen jeden Tag Verurteilte oder Geiseln in Fresnes. V… erzählt, dass sich jeden Morgen die gleiche bewundernswerte Szene abspielt. Das Kommando geht von Zelle zu Zelle, wird über Dachrinnen, Rohrleitungen, Wasserleitungen weitergegeben: Um sechs Uhr für die Insassen der Zelle 32  […] Zu besagter Zeit ertönt im gesamten Gefängnis die Marseillaise oder der Le Chant du départ. Die Gefangenen haben alle Scheiben zerbrochen, damit die Opfer beim Überqueren des Hofes ihr Abschiedslied hören können. Die Deutschen haben den Gesang verboten, sie versuchten mit Folter und Erschießungen ein Exempel zu statuieren. Vergebens. Das Gefängnis singt weiter. Die Erinnerung daran darf uns nicht verlorengehen." "

 

Auch bei der Befreiung eines Konzentrationslagers ist es häufig die Marseillaise, die von den Deportierten in ihren jeweiligen Muttersprachen gesungen wird. Jean Léger, ein Überlebender eines Lagers, erzählt von diesem Ereignis in seinem Buch (Jean Léger, Petite Chronique de l’horreur ordinaire, Verlag A.N.A.C.R. Yonne, Auxerre, 1998). Nachdem sich in Allach, Nebengebäude von Dachau, am Vorabend des 30. April 1945 die SS ihrer Waffen und Uniformen entledigt hatte und verschwunden war, schiebt sich am Morgen vorsichtig ein Helm über die Böschung, gefolgt von weiteren, und schließlich reißen die Befreier den Stacheldraht nieder …Eine Marseillaise sprudelt spontan hervor und mir scheint, als hätte ich sie in anderen Sprachen als unserer eigenen gehört“. Wie ein universelles Lied für die Freiheit und Befreiung schallt die Marseillaise in unterschiedlichen Sprachen durch das befreite Lager.

 

Und es ist natürlich eine Marseillaise, die bei der BBC auf Französisch die Ankündigungen des Sieges begleitet, als am 8. September 1943 Victor Emmanuel III und Marschall Badoglio der Waffenstillstand aufgezwungen wird. Ein aufmerksamer Zuhörer, Léon Werth, in Déposition, journal de guerre 1940-1944, (Verlag Viviane Hamy, 1992, S. 519), berichtet: „Die Neuigkeit wurde zunächst schnörkellos, ohne Vorbereitung oder Kommentar, bekanntgegeben, mit einer Marseillaise als Schlusspunkt. “ Derselbe Autor berichtet am Samstag, 23. November 1940 (Déposition, S. 103), wie der Vater François, ein Stuhlmacher, ihm leise die sechste Strophe vorsang, während er dabei die Strohsitzfläche eines Stuhls fertigstellte.

 

 „Er unterbricht seine Arbeit, lässt dabei aber nicht den Binsenzweig los." Und als würde er mit gesenkter Stimme beten, sind die Worte doch klar zu verstehen, und er singt:

 

Liberté, liberté chérie (Freiheit, geliebte Freiheit)/ Conduis, soutiens nos bras vengeurs… (Du führst, du stützt unsere rächenden Arme …)

 

Er singt für sich und für mich. Er singt, als spräche er ein Gebet …Ein alter Stuhlmacher singt mir eine Strophe aus der La Marseillaise vor und ich bin tief berührt. “ Wie könnte es auch anders sein?

 

Freilich ist es diese sechste Strophe, die den Marschall so sehr berührt und singen lässt, dass seine Partisanen sie „die Strophe des Marschalls“ nennen, aber hier, in diesem Zusammenhang, ist es sicherlich nicht der Marschall, der verehrt wird, sondern die geliebte Freiheit.

 

Diese "Strophe des Marschalls", so Léon Werth weiter in Déposition (S. 157) vom 21. Januar 1941, erinnert indirekt an ein zusammengeklebtes Flugblatt, das zweifelsohne ohne Genehmigung des Schulleiters im Lycée Bourg-en-Bresse am schwarzen Brett der Schule zu finden war:

 

"Wenn Ihr die Freiheit wollt: PETAIN/

   Wenn Ihr Sklaven der Juden und Freimaurer sein wollt: DE GAULLE".

 

Erinnern wir uns hier mit Guy Scarpetta (in der Extra-Ausgabe der Monde mit dem Titel 1945, un monde éclaté sort de la guerre) an diesen Zug von 750 Deportierten aller Nationalitäten, darunter Franzosen, Polen, Spanier, die im Juli/August 1944 von Toulouse auf dem Weg nach Dachau sind, eine Herde, die gut bewacht und mangels einer Brücke in der Nähe, zu Fuß in einem harten Marsch von 17 km von der rechten zur linken Uferseite der Rhône wechselt. Als die Deportierten den Marktflecken Chateauneuf-du-Pape durchqueren, singen sie die Marseillaise, "wie um den in ihren Häusern eingesperrten Bewohnern zu signalisieren, dass sie ‚Frankreich sind‘". Und der Autor fügt hinzu: „Einige von ihnen [Überlebende von Dachau] haben mir erzählt, dass die Marseillaise für die einen ein Nationallied war, für die anderen ein republikanisches Lied, und für wieder andere ein Lied der Revolution. Und für viele war sie alles auf einmal. Marseillaise  - französisch und universell…

 

Während der Befreiung von Paris ist die Marseillaise sehr oft zu hören. Der Priester Bruckberger, Akteur des Ereignisses, erinnert sich in verschiedenen Geschichten, die er in seinem Buch Mémoires erzählt: "Am 25. August um 19 Uhr: Alle korrigieren ihre Position im Ehrenhof [der Polizeipräfektur]. Die Wächter stehen auf der Treppe Spalier. Die Fahne ist in Position. Draußen, auf dem Boulevard du Palais, steigt der vom Rathaus kommende General de Gaulle aus dem Auto. Die Feuerwehr spielt "Aux champs". Der musikalische Leiter der Kompagnie, ohne Rang, macht eine kurze Geste und es ertönt eine überwältigende MarseillaiseWir waren zu Tränen gerührt und sahen, wie de Gaulle von  Leclerc empfangen wird…" Vorher erzählt Priester Bruckberger, dass in den Jahren 1941 und 1942 Gefangene im Zentralgefängnis von Clairvaux hingerichtet wurden, hauptsächlich Kommunisten, hauptsächlich begründet durch allgemeines Recht: bei jeder Hinrichtung sangen die Verurteilten und Mitinsassen die Marseillaise. Und er schreibt weiter: "es ist eine Schande, dass die Vichy-Regierung den Kommunismus als Straftat nach allgemeinem Recht abhandelt und die vermeintlichen Täter den deutschen Erschießungskommandos übergibt".

 

In der sogenannten freien Zone gehört die Hymne zu diesem Zeitpunkt zu allen Paraden der Waffenstillstandsarmee in Vichy und in den Garnisonsstädten, einer Armee, die die Schwäche ihrer Bewaffnung und ihrer Zweckbestimmung hinter dem Glanz ihrer Uniformen, Fahnen und Gesänge versteckt. Die von den Zivil- oder Militärbehörden angestimmte Marseillaise und insbesondere die 6. Strophe „Heilige Vaterlandsliebe“, die auch die „Strophe des Marschalls“ genannt wird, ist nicht dieselbe Marseillaise wie die subversive Fassung, die auf den Demonstrationen vom 11. November, 1. Mai oder 14. Juli außerhalb der offiziellen Zeremonien gesungen wird und diesen direkt trotzt. Dasselbe ließe sich natürlich auch über die Kokarde oder die Trikolore sagen, die beide durch das, was sie für den Träger symbolisieren, identisch und doch so verschieden sind: auf der einen Seite offiziell, auf der anderen gefährlich, illegal und trotzig.

 

Abzeichen der Chantiers de la Jeunesse, August 1940

               

Bei der großen Parade – „Fahnenfestparade“ – die im „Lager von Vichy“ am 28. Juni 1941 stattfindet, übergibt Marschall Pétain in Begleitung von Admiral Darlan dem General de La Porte du Theil, dem Generalkommissar der Chantiers de la Jeunesse (Pflichtarbeitslager für Jugendliche) feierlich die Fahne der Lager, zusammen mit dem Francisque-Abzeichen, vor zweitausend Jugendlichen, die auf der Veranstaltung am Vorabend zahlreiche Lieder und Turnübungen präsentierten. Bei der Übergabe erschaffen diese zweitausend Jugendlichen „auf dem im Morgenlicht liegenden Gelände und ihre jungen Gesichter dem Leiter zugewandt, die Hymne des Marschalls“, wie ein Gefangener schrieb. Sie hatten diese Hymne zwei Wochen lang in ihren Lagern eingeübt, mannschaftsweise, in verschiedenen Tonarten. In diesen enormen Verbund von zweitausend jungen Stimmen mischen sich langsam und einfach naive Parolen: "Glorreicher Soldat unseres Frankreichs, nimm unsere von Herzen kommende Ehrung an. Sieger von Verdun, wahres Symbol der Tapferkeit, möge Gott dich behüten und beschützen und unsere Fahnen schützen) – und das mit einer so reinen, so gewaltigen und fast liturgischen [sic] Musik und einer überraschenden Hingabe – überraschend selbst für die, die doch schon hundert Mal die Kraft der den Marschall vergötternden Gesänge gehört hatten. Seit diesen Jahrhunderten hat in Frankreich kein anderer Gesang diese Intensität und diese ruhige Lyrik erreicht“ (Jean Bouchon in dem Heftchen "À 20 ans dans les Chantiers de la Jeunesse, Beilage zur Ausgabe 38 von Vaillance, l’hebdomadaire d’une France plus belle). Der Journalist schrieb in lyrischem Ton weiter: „Die Marseillaise, die darauf folgte, gewann noch weiter an Vornehmheit. " Man sieht, wie eine "Hymne für den Marschall" die Nationalhymne nicht nur übertrifft, sondern ihr auch noch einen größeren Glanz verleiht.

 

Eine Verehrung, ein Führerkult, wie sie nie zuvor gesehen worden waren

 

 

Kommen wir nun zum Widerstand zurück, wo die Marseillaise ebenfalls gesungen wurde – außerhalb offizieller Anlässe.

 

Der Historiker Jean-Claude Richard hat in der Zeitschrift Etudes Héraultaises des Jahres 2012, Ausgabe 42, das Dossier des 14. Juli 1942 in Montpellier und Umgebung untersucht. Folgendem am 15. Juli veröffentlichten Bericht der staatlich kontrollierten Presse zufolge wurden in der Hauptstadt des Departements die Zeremonien mit großer Würde und ohne Zwischenfälle abgehalten: "Montpellier hat den Nationalfeiertag voller Hoffnung und Besinnlichkeit begangen, voller Zuversicht in das Schicksal unseres Landes und mit einer Andacht für die Toten und Gefangenen". Eine eher düstere Feier:  Totenglocke und Niederlegung der Blumengebinde um 8:30 Uhr am Ehrenmal, religiöse Zeremonien um 10:00 Uhr in der Kathedrale und in der evangelischen Kirche – immer noch in Anwesenheit der Obrigkeit, die sich am Nachmittag im Petit Lycée einfindet, um dort der Preisverleihung beizuwohnen, bei der die Rede des Kommandanten der 16. Militärdivision, General de Lattre de Tassiny, folgenden Passus enthielt: „Der militärische Führer ist der Jugendbeauftragte mit der schlussendlichen Erinnerung an „die legendäre Figur … ein Versprechen der Erfahrung … Marschall Pétain“. Selbstverständlich wird der Rest des Tages von der Presse und der Regierung verschwiegen.

 

Der Bericht des Polizeikommissars an den stellvertretenden Präfekten gibt jedoch eine ganz andere Realität wieder, sowohl für die Kreisstadt als auch andere Orte. Er berichtet, dass „von der heimlichen Résistance-Bewegung „Combat“ und von der Kommunistischen Partei, die die ausländischen Propagandathemen aufgriffen, ein großer Propagandaaufwand betrieben wurde. " Er beschreibt insbesondere, dass gegen 18:30 Uhr rund hundert die Marseillaise singende Personen in Palavas anwesend waren, und fährt fort: " In Montpellier spazierten zur gleichen Uhrzeit rund einhundert Abzeichen tragende Personen, hauptsächlich Frauen und Kinder, langsam in kleinen Gruppen über die Rue de la République; eine von ihnen stimmte die Marseillaise an und entfernte sich nach sofortigem Eingreifen der Agenten in aller Stille. In der Rue Foch wird die Anzahl der Personen, die sich zur gleichen Uhrzeit mit der Absicht einer Demonstration versammelt hatten, auf ungefähr 500 geschätzt. Einige von ihnen, vor allem die Frauen, trugen außerdem Haarbänder oder Kokarden in den Farben der Trikolore… Die Gruppen, die in die benachbarten Straßen zurückgedrängt wurden, stimmten die Marseillaise an… Das Einschreiten der Behörden wurde nicht kritisiert und lief gewaltfrei ab. Man wunderte sich aber, dass diese Personen am Singen der  Marseillaise gehindert wurden." Es folgt eine Liste von 42 festgenommenen Personen, darunter Albert Soboul, der sich später als Historiker der Französischen Revolution einen Namen erwarb. Damals war er Studienrat und wurde nach dem Vorfall von seinem Posten entfernt; wieder auf freiem Fuß, ging er in den Untergrund (Vermerk in der Polizeiakte: "kommunistischer Sympathisant, ist der Liebhaber von …").

 

Zu diesen Demonstrationen hatten die Bewegungen des inneren Widerstands und des freien Frankreichs aufgerufen. Insbesondere aufgrund des Widerhalls der Studentendemonstrationen, die am 11. November 1940 fast spontan auf den Champs Elysées in Paris stattfanden, ruft jedes Jahr zunächst von London und anschließend von Algerien aus General de Gaulle die Franzosen dazu auf, öffentlich "in dem Teil Frankreich, der als nicht besetzt bezeichnet wird", am 14. Juli und 11. November, am Tag der Arbeit oder am Feiertag von Jeanne d’Arc im Mai zu demonstrieren. Er fordert die Menschen dazu auf, ihre Häuser zu beflaggen, in den Städten und Dörfern zu flanieren, ausgestattet mit Accessoires in den Farben der Trikolore an der Kleidung und die Marseillaise zu singen. So schrieb der General am 14. Juli 1942: "Überall wird die Marseillaise wie aus einer Seele, lauthals, mit Tränen in den Augen gesungen. […] Die Fahnen – unser Stolz! Die Aufmärsche – unsere Hoffnung! Die Marseillaise! unsere Wut. Uns bleiben der Stolz, die Hoffnung und die Wut. Wir werden sehen, wie es weitergeht. " (Charles de Gaulle. Discours, 1. Band, S. 249, Verlag Elgoff, Sammlung Le Cri de la France, Freiburg-Genf, 1944)

 

Zahlreiche verbotene Schriften des Widerstands wurden nach der Marseillaise benannt. Dabei handelte es sich oft um von der kommunistischen Partei Frankreichs kontrollierte Zeitungen, wie jene aus Marseille ab Dezember 1942, die auch nach der Befreiung weitergeführt wurde. Seit November 1942 trägt eine Wochenzeitschrift des unbesetzten Frankreichs in London immer noch diesen Titel. 

 

Natürlich handelt es sich bei den Liedern, die die  Marseillaise auf Demonstrationen und bei den Widerstandskämpfern begleiten, nicht um die, die die Anhänger von Pétain singen, wie Maréchal, nous voilà! (Marschall, hier sind wir!)“ von André Montagard, aufgenommen von André Dassary, einen gern unterrichteten und in den Schulen gesungenen Marsch, der aber bei offiziellen Zeremonien sehr viel seltener als die Marseillaise gesungen wurde. Es ist festzuhalten, dass der Text dieses Liedes zu „pfadfindermäßig“, ja sogar zu infantil ist, um den Erwachsenen zu gefallen. :

 

„Tous tes enfants qui t’aiment et vénèrent tes ans, (Alle Kinder, die dich lieben und deine Jahre verehren)

   A ton appel suprême ont répondu « présent » (haben auf deinen höchsten Aufruf mit „anwesend“ geantwortet)

   Maréchal nous voilà ! (Hier sind wir, Marschall) Devant toi, le sauveur de la France, (Vor dir, dem Retter Frankreichs)

   Nous jurons, nous tes gars, de servir et de suivre tes pas (Schwören wir, wir, deine Männer, zu dienen und dir zu folgen)

   Maréchal nous voilà ! (Hier sind wir, Marschall) "

 

 

Zahlreiche Parodien des "Maréchal, nous voilà! ", einige davon ziemlich albern, wurden in Form von Flugblättern von Mitgliedern des Widerstands geschrieben und verbreitet (in der Zeitschrift Europe Ausgabe 543-544, 1974, "La Poésie de la Résistance", S. 212-213):

 

"Tous les Français qui ragent ("Alle Franzosen, die darüber empört sind)

D’avoir été vendus, (dass sie verraten und verkauft wurden)

Savent que, sans courage, (wissen, dass Du)

Hier tu t’es rendu (Dich gestern feige ergeben hast)

Maréchal nous voilà ! (Hier sind wir, Marschall)

Malgré toi, nous sauverons la France (Dir zum Trotz werden wir Frankreich retten)

Nous jurons qu’un beau jour (Wir schwören, dass eines Tages)

L’ennemi partira pour toujours. (der Feind für immer gehen wird.)

Maréchal nous voilà ! (Hier sind wir, Marschall)

Nous avons retrouvé l’espérance (Wir haben die Hoffnung wiedergefunden)

La Patrie renaîtra (Das Vaterland wird neu geboren)

Maréchal, maréchal, malgré toi !" (Dir zum Trotz, Marschall!)

 

Anpassungsfähigkeit einer Leithymne, die der Französischen Revolution entstammt. Sie wird von den Anhängern des Marschalls in der sogenannten Freien Zone gesungen sowie bei gut überwachten offiziellen Anlässen. Sie wird von Demonstranten gesungen, die den lokalen Anweisungen oder denen aus London (und später Algier) folgen. Sie wird von zum Tode verurteilten Geiseln und Widerstandskämpfern gesungen. Sie wird von Deportierten gesungen, manchmal auch in Verbindung mit anderen revolutionären Liedern. Was die Franzosen in der unbesetzten Zone betrifft, so singen auch sie den Marche lorraine (Lothringischen Marsch), weitere Lieder mit militärischer Tradition und das Chant des partisans Lied der Partisanen) von Joseph Kessel und Maurice Druon, ein neues Lied, das tatsächlich seit der Befreiung bekannt ist und seither auch gefahrlos gesungen wird.

                                                                                   

Bernard RICHARD, November 2016