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Der Prozess der Abgeordnetenkammer : die Opfer

Aktie :

Photographies anthropométriques de F. Zalkinow, P. Milan, A. Semahya, C. Rizo, R. Hanlet et T. Bloncourt. © Archives de la Préfecture de police

Mit dem Beitritt der Parti communiste français (PCF) in den ”bewaffneten Kampf” verstärkt die Besatzungsmacht ihre Unterdrückungspolitik. Die Gerichtsverfahren nehmen immer radikalere Züge an. Ab dem Sommer 1941 werden Mitglieder bewaffneter kommunistischer Gruppen verhaftet, vor deutsche Militärgerichte gestellt und verurteilt, in den meisten Fälle zum Tode. In diesem Kontext ist auch der Prozess gegen die jungen kommunistischen Francs Tireurs aus dem 11. Arrondissement zu nennen.

Corps 1

Am 4. März 1942 als Roger Hanlet, Pierre Milan, Acher Semahya, Fernand Zalkinow, Robert Peltier, Christian Rizo und Tony Bloncourt (siehe Tonbildschau) dem deutschen Militärgericht von Gross-Paris vorgeführt werden, ist ihnen nicht bewusst, dass sie unfreiwillig zu Akteuren einer Premiere werden. In Handschellen betreten sie den Festsaal des Hôtel de Lassay, einen riesigen Ballsaal in weiß, rot und gold gehalten, der die Abgeordnetenkammer mit der Residenz des Präsidenten im Palais Bourbon verbindet. Dieser ausnahmsweise für das Publikum freigegebene Saal, diese mit fünf monumentalen Kronleuchtern hell beleuchtete Galerie wird erstmals Schauplatz einer Reihe von Prozessen, die zum ”großen Spektakel” werden, organisiert vom Militärbefehlshaber in Frankreich (MBF) zu Propagandazwecken als Antwort auf die ersten Attentate gegen die Armee der Besatzungsmacht.

Freispruch oder Todesstrafe

Die sieben Kommunisten, Mitglieder des Bataillons de la Jeunesse stehen vor Gericht wegen gemeinsamen Aktivitäten mit den Francs-tireurs im Zeitraum von August bis Oktober 1941, ein Tatbestand, der nach gültigem Recht Deutschlands nur Freispruch oder Todesstrafe zulässt. Die Anklage lautet auf 17 Attentate, darunter auch ”versuchte Mordanschläge, Brandstiftung oder Beschädigung von Garagen, Sendeanstalten oder Bahngleise...”.

Die Angeklagten sitzen in zwei Reihen drei Richtern gegenüber, die an einem langen Tisch Platz nehmen, der mit einem grünen Teppich bedeckt ist mit überdimensional großem Nazi-Emblem: Die Debatte wird geleitet vom Berater des Militärgerichts Hans Gottlob, Antikommunist und notorischer Nazi, der von seinen beiden Stellvertretern unterstützt wird (siehe Tonbildschau). An den beiden Enden sitzen sich der Staatsanwalt und der Justizbeamte gegenüber. Vor einem Fenster befindet sich ein Tisch, auf dem Waffen, Munition, Sprengstoff und Flugblätter präsentiert werden, die von der französischen Polizei im Rahmen der Hausdurchsuchungen sichergestellt wurden. Links, neben dem Übersetzer, sitzen die sechs Rechtsanwälte der Anwaltschaft von Paris, die für das Plädoyer bestimmt wurden, allesamt vertieft in ihre knappen Notizen, die sie auf die Schnelle zusammengetragen haben, nur wenige Minuten bevor sie zum ersten Mal auf ihre Klienten treffen. Rechts von ihnen drängen sich Journalisten und ein Kamerateam der Deutsche Wochenschau, die deutschen Fernsehnachrichten.

Corps 2

Sieben Angeklagte, sieben Verurteilte

Durch die erstmalige Zulassung der ”autorisierten Presse” und zudem an einem solch symbolträchtigen Ort, kommt es zu einem Prozess eines deutschen Militärgerichts, in der Art des Gross-Paris, Sektion B, das seinen Sitz üblicherweise in der rue Boissy-d'Anglas hat und die Öffentlichkeit meidet, erregt der neue militärische Kommandant der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich, Karl-Heinrich von Stülpnagel, großes Aufsehen. Dem Beispiel seines Cousins Otto von Stülpnagel folgend, dessen Nachfolge er nur wenige Tage vorher angetreten hatte, baut er eine Drohkulisse gegen die öffentliche Meinung in Frankreich auf, mit dem Ziel, dass diese feindlich gegenüber des bewaffneten Widerstands reagiert. Weiterhin möchte er mit seinem Vorgehen den höchsten Behörden in Berlin beweisen, dass die militärische und gerichtliche Unterdrückung des MBF gegen die ”Moskauer Terroristen”, mit denen die französische Polizei kollaboriert, abschreckender wirkt als die Massenhinrichtungen von Geiseln, die von Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall der militärischen Streitkräfte Deutschlands angeordnet waren, und deren Unpopularität bei den Franzosen aus seiner Sicht strategisch eher kontraproduktiv waren.

Aber wer sind diese Angeklagten, die bis zu diesem regulären Scheinprozess überhaupt nicht bekannt waren und allesamt zum Tod durch Erschießen verurteilt wurden? In einem heimlich verbreiteten Brief schreibt Fernand Zalkinow am Morgen nach Urteilsverkündigung von einer ”Eine Verurteilung, die einer Farce gleicht”. Wie wurden diese jungen Arbeiter und Studenten so radikalisiert? Wie sind sie im Sommer 1941 in den Propagandazweig der bewaffneten Gruppen der jungen Kommunisten gelangt, ein Schritt, den die große Mehrheit der Kommunisten während der gesamten Besatzung eher abgelehnt hat? Die Frage ist nicht eindeutig zu klären, ohne zu berücksichtigen, dass sie allesamt sehr jung waren. Diese sieben Widerstandskämpfer waren durchschnittlich nur 20 Jahre alt (von 18 bis 27 Jahre). Ledig und ohne Kinder hatten die Angeklagten nichts, das ihr Engagement aus familiären Gründen hätte bremsen können. Dies unterstreichen auch die Merkmale, die für ihr Alter markant sind: ihre Naivität, dass ihr um einige Jahre älterer Chef, Gilbert Brustlein, seinen Lebensabend sehr scherzhaft und mit Nachsicht verbrachte; ihre Unbekümmertheit gegenüber der drohenden Gefahren; ihre Abenteuerlust und Kompromisslosigkeit; der Wille, ihren Teil beizutragen, lässt die Hypothese zu, dass sie von einer Vaterfigur träumten mit den Augen von vier Waisen eines Vaters, die der Gruppe Brustlein dienten (Brustlein, Semahya, Rizo und Milan). All dies wurde ihnen häufig von übergeordneten Hierarchien aufoktroyiert. Diese Letzteren, etwas älteren und von der Partei bevollmächtigt, waren geformte Gestalten in einem Kampf, in dem es galt, seine Autorität unter Beweis zu stellen, was für die Kadetten Ansporn war, ihr ”Können unter Beweis” zu stellen. Diese geforderte Gehorsamkeit wurde noch verstärkt durch den Willen, es ”seinen Kameraden” gleichtun zu müssen. Die Angeklagten stammten größtenteils aus demselben Milieu, sie wohnten in denselben Viertel, hatten dieselben Interessen und besuchten dieselben Örtlichkeiten. Wenn Kameradschaft die wesentliche Antriebskraft für das Engagement im bewaffneten Kampf der Kommunisten ist, so werden diese Partisanen einer hohen Gefahr ausgesetzt, sobald sie ins Visier der Polizei geraten.

Der Fall der ”Gruppe Brustlein”

Die Kriminalpolizei der Polizeipräfektur von Paris, ansässig in der 36 quai des Orfèvres, nimmt im Oktober 1941, in Folge einer willkürlichen Denunzierung gegen einen jungen Mann, der ”in Verbindung steht mit Leuten, die an Attentaten auf die Bahngleise beteiligt waren”, die Spur der Widerstandskämpfer auf. Letzterer wurde identifiziert, unter Beobachtung gestellt und aufgespürt, so dass dann die ”36” die Beschattung starten konnte: Pierre Milan und Roger Hanlet werden bereits nach wenigen Tagen aufgespürt und unmittelbar festgenommen. Aufgrund der Dringlichkeit der Situation, zum Zeitpunkt der Erschießung von Geiseln, war diese ungewöhnliche Hast zwar potentiell kontraproduktiv, dennoch hat sie der Angelegenheit keinen ”Schaden” zugefügt. Auf Anhieb gesteht Roger Hanlet die Umstände gegenüber Kommissar Veber, dem Leiter der Kriminalpolizei: mental manipuliert durch diesen erfahrenen Spürhund, gibt der junge Widerstandskämpfer alle Informationen preis. Dank dieser Aussage gelingt es der ”36” ohne Umschweife seine Untersuchung fortzusetzen und Kenntnis über weitere Widerstandskämpfer zu erlangen, die ebenfalls unter Druck gesetzt werden. Die ”Kripo” ist nunmehr in der Lage, die Rolle der Einzelnen einzuordnen: Gilbert Brustlein, Leiter der Gruppe, die sich möglicherweise aufgelöst hätte, wäre dies nicht vorzeitig in Folge der Beschattung und der Verhaftungen geschehen, wurde aufgrund seiner Verantwortungsbereiche und seiner Beteiligung an einem Attentat, bei dem der Feldkommandant Hotz (Verantwortlicher für die Besatzungstruppen eines Departements, in diesem Fall des Departements Loire inférieure) in Nantes ums Leben kam, zum Hauptziel. Dieses Attentat war Auslöser für Repressalien und die Exekution zahlreicher Geiseln.

Der bis zu diesem Zeitpunkt nicht auffindbare Mann, der große Abwesende während des Prozesses, stand im Mittelpunkt der Presse in der besetzten Zone, sowohl bei den gegnerischen Pariser Zeitungen Paris-Midi und Paris-Soir, Aujourd'hui, Le Matin, Le Petit Parisien als auch insbesondere der Les Nouveaux Temps von Jean Luchaire, Le Cri du Peuple von Jacques Doriot, L'Œuvre unter der Leitung von Marcel Déat. Hinzu kommt die Pariser Zeitung, die Zeitung der Besatzungstruppen (Ausgaben in deutscher und französischer Sprache), die zahlreiche und lange Artikel über den Prozess gegen die ”Terrorgruppe Brustlein” veröffentlichte. Die Pariser Zeitung, deren redaktionelle Ausrichtung die ”Beschreibung des deutschen Lebens” und die Erläuterung des ”deutschen Gedankenguts” war, veröffentlicht an drei aufeinander folgenden Tagen eine detaillierte Zusammenfassung der ”Debatten” und zitierte ganze Passagen des Plädoyers und die zu erwarteten Urteile.

Ein zu medienwirksamer Prozess?

Vielleicht entspricht es zu sehr dem Geschmack von Dr. Bälz, Verantwortlicher der rechtlichen Gruppierung des verwaltenden Generalstabs, der insbesondere damit beauftragt ist, die Konformität der deutschen Unterdrückungspolitik mit internationalem Recht und der Konvention des Waffenstillstands zu gewährleisten. Dieser befürchtet, wie aus einem nicht veröffentlichten und vom historischen Dienst der Verteidigung aufbewahrten Brief vom 16. März 1942 (siehe Tonbildschau) hervorgeht, dass die Aussage des deutschen Generalanwalts über das ”Blut der unzähligen Geiseln”, zitiert in der Presse, die Alliierten zu der Annahme verleiten könnte, die vom MBF durchgesetzte Unterdrückungspolitik zu stigmatisieren. Aus diesem Grund versuchte er, die Hinrichtung von Geiseln auf ein Mindestmaß zu beschränken, wie gesagt, aus rein taktischen Gründen. Seine Empfehlung gegenüber den deutschen Richtern diente dazu, in kommenden Anklagen und Urteilen ”kostspielige politische Aussagen” zu vermeiden.

Obwohl die Pariser Zeitung in vollem Umfang berichtete, wurde der zweite Prozess gegen die jungen kommunistischen ”Terroristen” für die gesamte Presse freigegeben und Anfang April an einem weniger prachtvollen Ort, dem Maison de la Chimie abgehalten. Auf diese Weise wurde dieser Prozess in der französischen Presse nicht so medienwirksam. Die meisten Zeitungen veröffentlichten lediglich eine Pressemitteilung Havas-OFI zu Beginn des Prozesses, sowie eine zweite nach der Urteilsverkündung (25 Todesurteile). Diese Scheinprozesse brachten jedoch weder den erhofften Effekt in der französischen Bevölkerung, noch für die Häufigkeit der Attentate. Der dritte Prozess der geheimen Organisation (OS) (16 Todesurteile) wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Ballsaal des Hotels Continental vom 14. August bis 9. September 1942 abgehalten und fand in der französischen Presse nur wenig Beachtung...

Die vom SHD aufbewahrten Akten der deutschen Militärgerichte lassen die Tragweite der Empfehlungen seitens Dr. Bälz ebenso erahnen wie die mittlerweile geänderte Strategie des MBF. Es bleibt zu erwähnen, dass die im Rahmen dieser Prozesse ausgesprochenen Urteile sicherlich manche Militante daran gehindert haben, sich am bewaffneten Kampf zu beteiligen. In ihren Augen sind die Francs-tireurs die ”Opfer”.

Boris Danzer

Historischer Berater und Herausgeber

& Franck Liaigre

Historiker, Experte in den Bereichen Widerstand und Besatzung,

Mitglied der CESDIP (CNRS / Justizministerium)

WEITERE INFORMATIONEN

Die Akte des Prozesses in der Abgeordnetenkammer tragen das Aktenzeichen GR 28 P 8 50 /215 und können im Lesesaal eingesehen werden. Der historische Dienst der Verteidigung bewahrt auch Einzelakten von 5 der 7 verurteilten Widerstandskämpfer auf: Acher Semahya (GR 16 P 544405), Fernand Salkinow (GR 16 P 606148), Robert Peltier (GR 16 P 464641), Christian Rizo (GR 16 P 513607) und Tony Bloncourt (GR 16 P 65094).

Die Archive der Polizeipräfektur enthalten ebenfalls Dokumente über diesen Fall (insbesondere erkennungsdienstliche Fotos der Angeklagten, die auch in der Tonbildschau zu sehen sind).

  • Lettre du Dr Bälz, responsable du groupe Justice de l'état-major administratif, 16 mars 1942.
    © SHD
  • Lettre du Dr Bälz, responsable du groupe Justice de l'état-major administratif, 16 mars 1942 (traduction).
    © SHD
  • Pièce de procédure, procès de la Chambre des députés, 6 mars 1942 (extrait).
    © SHD
  • Pièce de procédure, procès de la Chambre des députés, 6 mars 1942 (extrait-traduction).
    © SHD
  • Photographies anthropométriques de Fernand Zalkinow.
    © Archives de la Préfecture de police
  • Photographies anthropométriques de Pierre Milan.
    © Archives de la Préfecture de police
  • Photographies anthropométriques d'Acher Semahya.
    © Archives de la Préfecture de police
  • Photographies anthropométriques de Christian Rizo.
    © Archives de la Préfecture de police
  • Photographies anthropométriques de Roger Hanlet.
    © Archives de la Préfecture de police
  • Photographies anthropométriques de Tony Bloncourt.
    © Archives de la Préfecture de police