Newsletter

Die Graffitis im Lager Drancy

Die Cité de la Muette wurde in den 1930er Jahren von den Architekten Eugène Beaudouin (1989-1983) und Marcel Lods (1891-1978) gebaut. Das Gebäude in Form eines „Us“ oder „Hufeisens“ dieser Gebäudegruppe kann vor dem Krieg nicht mehr fertiggestellt werden.

MCLXIV_114_web
Allgemeine Ansicht der Betonmauern mit Graffitis in der Cité de la Muette im Lager Drancy. Drancy, 2009
© Région Ile-de-France - Inventaire général du patrimoine culturel ; © Conseil général de Seine-Saint-Denis

 

In diesem Gebäude richten die deutschen Behörden im Juni 1940 den „Fronstallag 111“ ein, in dem die Kriegsgefangenen untergebracht werden.
Am 20. August 1941 werden bei einer Großrazzia in Paris mehr als 4 200 jüdische Männer festgenommen. Sie sind die ersten, die nach Drancy geschickt werden. Von August 1941 bis August 1944 werden 80% der französischen Juden vor ihrer Deportation in das Internierungslager in der Cité de la Muette geschickt. 
Nach dem Krieg herrscht starker Wohnungsmangel, weshalb das Gebäude wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt werden soll; es wird renoviert zu zu Sozialwohnungen umgebaut. Die Wohnungen werden mit Zwischenwänden versehen und fertiggestellt, die Vorsatzwände mit Gips verputzt und gestrichen oder tapeziert.

 

​MCLXIV_114_web

Graffiti von Martin Spindel. © Gedenkstätte an die Shoah

 

2001 wird die Cité de la Muette als „bedeutendes architektonisches und städtebauliches Werk des 20. Jahrhunderts […] und aufgrund ihrer Verwendung im Zweiten Weltkrieg, […] die sie zu einem Ort des nationalen Gedenkens macht“ unter Denkmalschutz gestellt.
2009 lässt das der Eigentümer der Baulichkeiten, das Office public d’Habitat de Seine-Saint-Denis, im rechten Flügel des Gebäudes Arbeiten ausführen. In diesem Teil des Lagers wurden während des Kriegs die Personen von den anderen Internierten isoliert, die am nächsten Tag deportiert werden sollten.
Da die Denkmalschutzbehörde in diese Renovierung eingebunden ist, wird beschlossen, die inneren Vorsatzwände aus unbehandeltem oder lasierten Gips abzunehmen.
Dabei kommen 76 Graffitis auf diesen Vorsatzwänden zum Vorschein. Die eingravierten oder mit Bleistift gezeichneten Graffitis sind ausgesprochen empfindlich und werden deshalb sorgfältig restauriert.
Namen, Daten, Zeichnungen.... diese Graffitis sind Beweise für das Bestreben der Internierten, vor ihrer Abfahrt „zu einem unbekannten Ziel“ eine Spur ihrer Anwesenheit in Drancy zu hinterlassen.
 
Zum Beispiel die Botschaft von Martin Spindel : „Martin Spindel / angekommen am 27. III 44 / deportiert am 13. IV 44“.
Martin Spindel, 1930 geboren, wird in der Isère in einem Haus für Kinder versteckt. Er wird bei der Razzia von La Martellière festgenommen und unter der Nummer 17620 in Drancy interniert. Zwei Wochen später wird er mit anderen Kindern aus La Martellière und der Maison d’Izieu im Transport Nr. 71 deportiert.
Ein Teil der Familie von Martin Spindel, die nach dem Krieg in die USA ausgewandert ist, entdeckte die Existenz dieses Graffitis vor kurzem. Bei einer Erinnerungsreise nach Frankreich konnten seine Verwandten seiner gedenken und sich mit großer Emotion vor den letzten Worten sammeln, die er vor seiner Deportation und seinem Tod in Auschwitz-Birkenau mit 14 Jahren an die Nachwelt gerichtet hatte.
Neben dem historischen Interesse als Zeugenberichte der Vielfalt der Lebenswege dieser Tausenden von Männern, Frauen und Kindern, die im Lager Drancy interniert waren, sind diese Graffitis auch oft die allerletzte Spur der Existenz einiger der 63 000 Juden, die vom Lager Drancy aus deportiert wurden. Ihre letzten Worte, deren Erinnerung in Stein gehauen ist.

 

Diese Graffitis werden in den staatlichen Archiven aufbewahrt. Sieben von ihnen sind in der Gedenkstätte an die Shoah in Drancy ausgestellt.

 

Mehr erfahren :

Die Graffitis im Lager Drancy. Namen an den Wänden. Unter der Leitung von Benoît Pouvreau. Editions Snoeck, 2013.

Martin Spindel

Martin Spindel

Graffiti de Martin Spindel

Graffiti de Martin Spindel