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1962, die Flucht der Franzosen aus Algerien

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Autor: Jean-Jacques Jordi

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©CREUSE/ECPAD/Défense

Sechzig Jahre, reicht das aus, nicht nur um sich zu erinnern, ohne gemeuchelt zu werden, sondern auch und vor allem um eine dramatische Geschichte vernünftig zu durchleuchten, die von Hass und Leidenschaft, von Verachtung und ohnmächtiger Liebe geprägt ist, welche die Erinnerungen damals und heute bewegen? Algerien feiert bald sechzig Jahre Unabhängigkeit, und das ist legitim. Repatriierte Algerienfranzosen (Pieds-Noirs) und französische Muslime versuchen sich zu erinnern und das Unbegreifliche zu verstehen... Warum sind sie unter solchen Bedingungen weggegangen?
 

Corps 1

1962 gab es einen der größten Migrationsströme des 20. Jahrhunderts im Mittelmeerraum. Er betraf fast eine Million Menschen. 800.000 von ihnen flohen aus Algerien, ihrer Heimat, wo sie nicht mehr leben konnten; 120.000 sollten versuchen, zum Preis von etlichem Hin und Her an ein multiethnisches und multikonfessionelles Algerien zu glauben, bevor sie ihrerseits in den folgenden zwei bis drei Jahren „ihr“ Algerien verließen.

„Repatriierungen“ sind nichts Neues: Jede Entkolonialisierung führte zu Repatriierungen entweder durch die Schutzmacht oder das Kolonialland. Großbritannien, die Niederlande, Belgien, Frankreich und Portugal, um nur einige der wichtigsten Kolonialmächte zu nennen, haben sich nicht ganz reibungslos daran angepasst. In Frankreich jedoch – und später auch in Portugal – haben die Repatriierungen einen besonderen Charakter, da deren Bedingungen einzigartig sind. Klar ist, dass diese Bewegungen fast immer aus gewalttätigen Krisen hervorgehen, mit denen der französische Staat zwischen 1954 und 1962 konfrontiert ist. Der Indochina-Krieg, das Ende der Protektorate über Marokko und Tunesien, die Suez- und die Bizerta-Krise bis zum Algerienkrieg drücken die Brutalität des Übergangs und die Gewalt der Entkolonialisierung aus. Sorgen und Unsicherheit, Misstrauen und Ängste treten im Bewusstsein der Gemeinden immer mehr zutage als in der Vergangenheit und die „Übersee“-Franzosen fürchten die Erlangung der Unabhängigkeit.

Genauer betrachtet spielt sich nahezu jeder Aufbruch in einem Klima der Angst ab, allenfalls in einem mit Furcht vermischten Argwohn. Wie soll man vor vorhersehbarer, jedoch von beiden Seiten ungeahnter Gewalt fliehen? Wie soll man aufbrechen und das Heimatland, die alltäglichen Dinge und die bescheidenen, zumeist aus Gefühlen heraus getätigten Investitionen hinter sich lassen? Wir sprechen hier natürlich von jenen, die in großer Eile aufgebrochen sind, „Indochinesen“ nach dem Rückzug der französischen Armee nach Hanoi und später nach Haiphong, „Marokkaner“ nach den Ereignissen von 1953 in Oujda, von 1955 in Khenifra und Khouribga sowie von 1956 in Meknès, „Tunesier“ nach Bizerta, „Ägypter“ infolge der Suez-Krise bis zur großen Flucht von 1962, die alle Gegebenheiten auf den Kopf stellt.

 

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Aufbruch der europäischen Bevölkerung Algeriens (Algerienfranzosen), 1962  ©CREUSE/ECPAD/Verteidigung

Die am 18. März 1962 unterzeichneten Verträge von Evian sollten einen Krieg beenden, den niemand mehr wollte und ein Ende der Gewalt ab 19. März Mittag bewirken. Sie verboten die Anwendung jeglicher individueller und kollektiver Gewalt, aller Untergrundaktivitäten und Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, legten eine Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen einem französischen Hochkommissar und einer algerischen Übergangsregierung fest und sahen eine wirtschaftliche, finanzielle und kulturelle Kooperation zwischen den beiden Staaten vor. Kaum waren diese Verträge unterzeichnet, wurden sie von der OAS, dem Generalstab der ALN und der FLN selbst in Frage gestellt, nachdem diese sie befürwortet und unterzeichnet hatte. Durch die Formen, welche diese Ablehnung angenommen hat, erstarrt Algerien in einer Angst, die an Bewusslosigkeit grenzt. Dabei handelt es sich um ein Algerien der Küstenstädte, denn das Land bzw. das Hinterland, aus dem sich die französische Armee immer mehr zurückzieht und von wo die Siedler fliehen, werden deutlich von der ALN gehalten, die ihre Gesetze durchsetzt. Nunmehr äußert sich die Gewalt am radikalsten in den Städten, Oran, Bône und natürlich in Algier.

Furcht, Angst und Feindseligkeiten verstärken sich durch Massendemonstrationen, die französische Militärpräsenz und den Terrorismus der FLN, die alle Bevölkerungsschichten betreffen. Die Gründung der OAS und die Aktionen ihrer Kommandos wie „Delta“ und „Z“ oder von Einzelpersonen, die sich auf diese berufen, geben dem alltäglichen Schrecken, an den man sich entsetzlicherweise gewöhnt hat, eine neue Dimension.

Ab April 1962 lautet das oberste Gebot fortzugehen, dieser Situation zu entfliehen, in der man das Gefühl hat, erneut der Spielball des Krieges zu sein. Aber wie soll man in das Frankreich fliehen, das einen aufgegeben hat? Einige fliehen unauffällig und achten darauf, etwas Wäsche auf dem Balkon zu lassen, damit es so aussieht, als wäre die Person immer noch da: Die meisten jedoch fliehen überstürzt, mit vielen Ängsten und Sorgen, der Angst, von den FLN-Blockaden angehalten zu werden, der Schwierigkeit, ein Ticket zu bekommen, und schließlich dem Warten am Kai oder in der Flughafenhalle. Die erste Befreiung ist es daher, auf die Gangway zu steigen, die zweite am französischen Festland auszusteigen. Aber was erwartet einen bloß auf der „anderen Seite“?

 

Wenn man an die Repatriierung aus Algerien erinnert, fallen einem die Bilder von überladenen Passagierschiffen ein, die an den Kais von Marseille tausende, von einer anstrengenden Überfahrt erschöpfte Personen ausspucken. Dieses Bild ist real und trifft auf die Mehrheit der Personen zu, denn 54 % sind auf dem Seeweg „nach Hause" gekommen. Dennoch reisten 46 % der Rückkehrer mit dem Flugzeug zurück, was der Einrichtung einer echten Luftbrücke über das Mittelmeer zu verdanken ist. Diese Reisen haben die öffentliche Meinung weniger geprägt, da die Flugbedingungen jenen eines normalen Fluges von weniger als 2 Stunden viel näher kamen. Jedoch sind, wie die Kais, die Flughafenhallen Maison-Blanche in Algier, Es Senia in Oran oder Salines in Bône überfüllt und die Menschen warten manchmal tagelang unter schwierigen Bedingungen, bevor sie an Bord gehen.

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Aufbruch der europäischen Bevölkerung Algeriens (Algerienfranzosen), 21. April 1962 in Oran ©CREUSE/ECPAD/Verteidigung

Bis Mitte Mai nehmen die Schiffe, die im täglichen Wechsel wieder in Betrieb sind, eine Anzahl von Passagieren an Bord, die ihrer Kapazität entspricht oder nur geringfügig darüber liegt. Nach diesem Datum nehmen die Schiffe wesentlich mehr Passagiere auf, als maximal zugelassen sind. Die Kommandeure gehen zum so genannten „Truppenregime“ über, das dem Truppentransport mit maximaler Passagierzahl zulasten des Komforts und durch Weglassen der kommerziellen Ladung entspricht. Diese Panikstimmung lässt fast jede Unvorsichtigkeit zu. So nehmen am 12. Juni die Ville de Bordeaux und die Ville d’Oran in Algier 1200 und 1423 Repatriierte bei einer maximalen Kapazität von 1000 bzw. 1241 an Bord. Dasselbe gilt in den darauf folgenden Tagen für die Ville de Tunis, die Sidi Mabrouk, die Ville d’Alger, die Sidi Okba usw. Am 15. Juni nimmt die Cambodge in Algier 1.233 Personen an Bord (bei einer Kapazität von 437 Passagieren!), als eine Schießerei auf den Kais ausbricht. Die letzten Junitage übertreffen an Intensität noch alles, was der Hafen von Marseille je erlebt hat. Am 24. Juni kommt die Jean-Laborde aus Oran mit 1.166 Heimgekehrten anstelle der 400 erlaubten Passagiere an. Der nächste Tag, erzählt André Payan, damaliger Sonderkommissar der Häfen von Marseille, ist der größte und traurigste Tag des Hafens. Diese Bedeutung wurde nie zuvor auch nur annähernd erreicht. An diesem 25. Juni kommen im Hafen 7 Schiffe an, die fast 11.000 Menschen an Bord haben: von der Ville-de-Bordeaux gehen 1.503 Personen bei einer Kapazität von tausend Passagieren an Land, von der Ville-de-Tunis 2.037 Menschen anstelle der 1.400 zugelassenen, von der El Djezaïr 1.627 statt 984... den „Sieg“ trug die von Kommandant Miaille befehligte Kairouan davon, die 2.630 Personen anstatt der 1.172, für die sie berechtigt war, an Land brachte!

 

Auch wenn die Gründe für die Flucht in der Entkolonialisierungspolitik liegen, spiegeln die Exilbedingungen das wider, was für die Aufnahme vorgesehen ist. Während die Regierung mit der Repatriierung von 400.000 Personen in 4 Jahren rechnet, muss Frankreich einen beachtlichen und chaotischen Zustrom von 800.000 Menschen in einem extrem kurzen Zeitraum (April-September 1962) bewältigen.

Die lokalen Behörden und die Vertreter des Staates versuchen mehr schlecht als recht den Migrationsstrom zu regulieren, was ihnen nicht wirklich gelingt. Der Aufruf zu persönlichen und privaten Initiativen bringt eine leichte Besserung. Es bleibt die Tatsache, dass die Aufnahme mangelhaft ist, wenn sie nicht sogar inexistent bzw. feindlich ist, wie in Marseille zum Beispiel. Dieses traumatische Ereignis schlägt sich in einer zweiten Form nieder, die im Gedächtnis der „Repatriierten“ verankert ist: Man wollte uns nicht. Das betrifft die Franzosen europäischer Herkunft genauso wie die muslimischen Franzosen. Letztere sind unter äußerst schwierigen Umständen an Bord gelangt und reisen nachts, damit sie von den Franzosen nicht gesehen werden. Sie werden dann von der Armee oder Verbänden übernommen, die sie in Aufnahmelager bringen, die wie Verbannungsorte sind. Die Unsichtbarkeit umgibt sie und sollte noch lange andauern. Diese Repatriierung ist daher keine einfache Migration. Die brutale Entwurzelung, die Flucht und die ersten Tage in Frankreich führen zu seelischen und emotionalen Schäden, deren Umfang man damals nicht erfasste. Diese Migration trägt das Gefühl der Flucht und manchmal jenes des Exils in sich, was dazu führt, dass Frankreich, die notwendige und für die „Repatriierung“ unerlässliche Heimat, seine Stärke verliert. Sie ermöglicht später die Entwicklung eines idealisierten Landes in Frankreich und das ungute Gefühl, ganz und gar nicht zu Hause zu sein. Sie verschleiert aber auch die demographischen Gegebenheiten, die nun klarer sind: die „kolonialen“ Franzosen, die man „repatriiert“ - und das „algerische“ Beispiel ist der auffallendste Archetyp - sind das Resultat verschiedenster Einflüsse, aus einer Bevölkerungsmischung, deren Teile in Kolonialzeiten manchmal Gegner waren (Spanier, Italiener, Maltesen, Deutsche, Schweizer...algerische Juden). Und dann sind da noch all jene, die - oftmals gegen ihren Willen - die Bewegung der Dekolonialisierung begleiten: Juden aus Marokko und Tunesien, die als staatenlos betrachtet werden, ägyptische Juden nach dem Suez, bis hin zu den „Harkis", die Frankreich nicht wahrnehmen will, die aber gleichermaßen "Repatriierte - Expatriierte" sind wie die Franzosen europäischer Abstammung[1].

Angesichts dieser vorhersehbaren Flucht, die von der Regierung nicht beabsichtigt war, muss man natürlich reagieren. Eilig richtet die Regierung Ende April 5 Aufnahmevertretungen ein, in Marseille die größte, in Paris, Bordeaux, Lyon und Toulouse. Alles ist normalerweise veranschlagt, um den Migrantenstrom zu regulieren, den die befragten Experten für das Jahr 1962 auf 100.000 schätzen. Ende April waren bereits nahezu 70.000 „Repatriierte“ in Frankreich: Im Mai sollten es 150.000 und im Juni 480.000 sein! Nichts läuft wie geplant, die Aufnahmezentren sind überfüllt und sind ab Ende Mai 1962 nicht mehr funktionstüchtig. Angesichts der Überlastung der Departements am Mittelmeer, vor allem des Departements Bouches-du-Rhône, beschließt die Regierung, eine Politik der zweckmäßigen Intervention als Ersatz für die Politik der Freiheit in Bezug auf die Niederlassung anzuwenden. Es geht nun darum, die Repatriierten durch Zwangsmaßnahmen in Regionen zu lenken, in die sie offensichtlich nicht gehen wollen oder die sie nicht kennen. Nicht nur, dass man uns nicht wollte, sondern wir durften uns nicht frei bewegen. In den Gebieten mit dem größten Andrang versagte der Staat. Und daran halten sich die Algerienfranzosen fest.

 

Daher ist es verständlich, dass 1962 ein traumatisches Ereignis ist. Die wirklichen Dramen und die Not, welche die Repatriierten erlebten, sind darauf zurückzuführen, dass der Verlust Algeriens als tiefe Entwurzelung empfunden wird. Das damit verbundene Leid ist auch das Ergebnis einer sehr langen Zeit affektiver und leidenschaftlicher Spannungen – sieben Jahre Krieg. Es wird noch größer, als sie auf ein Land treffen, dessen Staatsbürger sie zwar sind, aber das sie kaum kennen. Die Entwurzelung führt daher zum sofortigen Verlust der materiellen und affektiven Bezugspunkte. Das Haus, das Dorf, das Viertel, die Straße, die Händler..., alles, was dazu beiträgt, das alltägliche Umfeld zu bilden, gibt es nicht mehr. Schlimmer noch, der Verlust dieser aus Gefühlen heraus getätigten Investitionen wird durch die Tatsache verschlimmert, dass ein Großteil der Bevölkerung in Frankreich der Ansicht ist, dass diese Güter auf Kosten der „Einheimischen“ erlangt wurden. Dass dies bei einigen der Fall war, kann niemand bezweifeln, aber die Verallgemeinerung ist oft übertrieben: Der Lebensstandard der Algerienfranzosen war zwischen 15 und 20 % niedriger als der der Franzosen. Wie dem auch sei, diese oft bescheidenen und nun verlorenen Güter werden zu Objekten der Schande. Dieses Gefühl, zusammen mit dem der Unsicherheit im Hinblick auf Arbeit, Wohnen, behördliche Schikanen usw. prägt den Algerienfranzosen zweifelsohne zutiefst.

Tatsächlich handelte es sich bei der „Repatriierung“ von 1962 nicht um eine normale Migration. Entwurzelung, Flucht und Exil führten zu moralischen und emotionalen Verletzungen, deren Ausmaß man nicht immer abschätzen konnte und die man mit Prioritäten bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche zu lösen glaubte. Anfänglich bleibt der Erinnerungskult die Reaktion der Algerienfranzosen nach außen und innen. Dann folgen die Kämpfe für die Entschädigung und die Forderung nach einem Gedenken.

 
[1] Ich greife bewusst die damalige Terminologie auf und betone, dass die Juden in Algerien, die 1870 Franzosen geworden waren, in den Statistiken als Franzosen europäischer Abstammung im Gegensatz zu Franzosen muslimischer Abstammung (sic) galten. Dies war eher das Ergebnis einer kolonialen Praxis als einer religiösen Praxis.

 

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Jean-Jacques Jordi, Historiker