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Jean-Marc Berlière

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Chapeau
Als Fachmann für französische Polizei und die Besatzung beleuchtet der Historiker Jean-Marc Berlière die komplexe Frage der Säuberung der französischen Gesellschaft am Folgetag nach der Befreiung.
Texte

Was ist unter „Säuberung“ zu verstehen? In welchem Zeitraum spielte sie sich ab?

Nach jedem Wechsel eines Regimes, nach schweren Zeiten, sozialen oder nationalen Problemen, aus politischen Gründen, als Antwort auf den Druck aus der Bevölkerung, zur „Bestrafung“ derer, die dem alten Regime gedient haben und deren Zuverlässigkeit angezweifelt wird, zur Schaffung von Stellen für Partisanen, um erneut an Macht zu gelangen - aus all diesen Gründen kommt es zu „Säuberungen“, die mehr oder weniger brutal oder tiefgreifend sind: Dies passiert in jedem Land und in allen Epochen. Nach all den Dramen, dem Kummer und den Denunziationen, die die vier Jahre der Besatzung bestimmt hatten, kommt es im Frühjahr 1944 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die sich in einer Spirale von Exekutionen, Unterdrückung, Attentaten und Vergeltungsmaßnahmen und der Angst vor Ausschreitungen und dem Wunsch nach Rache und Revanche äußern, denn diese Handlungen hatten schon längst vor der Befreiung des Gebietes ihren Lauf genommen. Für die provisorische Regierung der Republik Frankreichs wird diese Säuberung durch den Befehl „zur Kooperation“ bedacht, der am 26. Juni 1944 in Algier erteilt wird und somit zur Staatssache wird: Im Oktober 1944 ruft der General in Rouen seinem Volk den Befehl mit folgenden Worten ins Gedächtnis: „Es geht um den Staat, die Rechtsmäßigkeit und die Autorität die Staats, die es erfordert, für Frankreich einzustehen“. Diese Aufforderung muss er jedoch bei vielen Gelegenheiten neu deutlich machen, denn es wird ihm schnell klar, dass insbesondere in den Regionen, die nicht von den alliierten oder französischen Armeen befreit wurden – der gesamte Südwesten, von Limousin bis zu den Pyrénées orientales, von Ariège bis Charente, das Midi, von Alpes-Maritimes bis Hérault, die beiden Savoies… - alle von der provisorischen Regierung eingesetzten offiziellen Behörden öffentlich angeprangert wurden und Verbrechen, Exekutionen, Ausschreitungen und barbarische Aktionen im Untergrund auch nach der Befreiung fortgesetzt wurden, wobei selbst Frauen und Kinder nicht verschont blieben.
Entsprechende Einsätze sind genauso wichtig wie die Rückkehr zur Gesetzmäßigkeit, um den Ruf Frankreichs gegenüber den Alliierten wiederherzustellen und entsprechende Macht auszuüben. Die Opposition stellt sich klar und deutlich gegen de Gaulle, der die Säuberung auf eine „Handvoll Armselige“ beschränken will, um dann nach seinem Willen „Frankreich wieder zu Frankreich zu machen“. Verrat sei nur einer Minderheit vorzuwerfen sowie den Kommunisten mit ihren „eigensinnigen Absichten“ zur Machtübernahme, die vom nationalen Aufstand und dem Misskredit profitiert haben, durch die die Institutionen und Administrationen durch die Vichy-Regierung gelitten haben. Sie wollen die Macht durch die Unterstützung der „Polizei“ durch patriotische Milizen und eine vom Volk bestimmte Justiz, ja sogar revolutionär.

Worin liegt der Unterschied zwischen einer „illegalen Säuberung“ und einer „außergerichtlichen Säuberung“? Wer sind die Zielpersonen? Wie lange dauerte diese Vorgehensweise? Wie lautet die Bilanz?

Nach der Befreiung entstehen „Volksgerichte“ – manchmal findet man auch den Begriff „Revolutionsgericht“, selbst ernannte „Militärgerichte“, am Rande der Legalität, die jedoch Schnell-Hinrichtungen kein Ende setzten und deren Verurteilungen einer Farce glichen. Zweifelsohne fanden 1/3 dieser Verfahren nach der Befreiung statt. In den ersten Fällen spricht man von einer außergerichtlichen Säuberung und bei den zweiten von einer illegalen Säuberung. Die Unterscheidung ist jedoch rein theoretischer Natur, denn das Ergebnis bleibt dasselbe. Die Verurteilungen werden nebenbei am Tisch verfasst, auf Druck einer hasserfüllten Meute, ohne jegliche Untersuchung der Sachlage, ohne Anwalt und oft nur aufgrund eines Gerüchts oder einer öffentlichen Anschuldigung, oftmals sehr niederträchtig, weshalb es nahezu unmöglich war, den Urheber oder den Ankläger nachzuvollziehen, der meist unter Pseudonymen wie „Leutnant Georges“, „Hauptmann Bernard“ oder „Kommandant Marcel“ agierte. Diese außergerichtliche Säuberung begann in manchen Regionen im Juni/Juli und setzte sich bis September (am 28. September wird ein Militärgericht in Antibes erwähnt) und Oktober fort (22. Oktober in Périgueux), d. h. längst nach der Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit der Republik (30. August) und der Abschaffung solcher Gerichte. Es ist sehr schwierig, eine Bilanz zu ziehen, da die Zahlen zwischen 105.000 (sehr übertriebene Anzahl, aufgekommen durch amerikanische Kriegsberichterstatter, die von der Vorgehensweise äußerst schockiert waren und die aus ihren Erfahrungen dieser Blutbäder allgemeine Schlussfolgerungen für ganz Frankreich zogen) und 8.142 (Umfrage der IHTP im Jahr 1981, wobei die Zahlen nur 84 Departements berücksichtigen und zweifelsohne sehr optimistisch sind, was anhand späterer Untersuchungen in weiteren Departements deutlich wurde, die die Neubewertung mit 50% angaben) schwanken. Die Gesamtanzahl, die unmöglich genau ermittelt werden kann, wird sich zwischen 12.000 und 14.000 bewegen, wovon nur einer Minderheit ein ordentliches Gerichtsverfahren gewährt wurde.

Auf diese Phase folgte die gerichtliche Säuberung. Bis wann dauerte sie an? Wie lief sie ab? Wie viele Personen wurden angeklagt? Wie viele von ihnen wurden tatsächlich verurteilt?

Die Regierung war bemüht, für die von der Öffentlichkeit und der Presse geforderte Säuberung Regulierungen, entsprechende Organisation, den richtigen Namen und die Gesetzmäßigkeit sicherzustellen. Militärgerichte, insbesondere jedoch „Gerichtshöfe“ und „Gerichtskammern“ - spezielle Gerichtsbarkeiten, die für diese Fälle ins Leben gerufen wurden und mit Geschworenen aus den Reihen des Widerstands – wurden errichtet, um die ersten Verbrechen nach Artikel 75 ff des Strafgesetzbuchs zu verhandeln. Hierzu zählten erstens Verrat, Zusammenarbeit mit dem Feind, Spionage, Angriffe auf die Sicherheit des Staats und für die nationale Sicherheit schädliche Aktionen sowie in zweiter Linie Delikte, die nicht in diese Kategorien passten und oftmals Straftaten im Zusammenhang mit Meinungsäußerung, dem Umgang mit Menschen, die der Vichy-Regierung gegenüber freundlich gestimmt waren oder eine feindliche Ansinnung gegenüber den Alliierten, Gelage oder Geschäfte auf dem Schwarzmarkt. Die Strafe für diese Vergehen war der Verlust der nationalen Würde laut Anordnung vom 26. August 1944. Bei einer solchen Strafe verliert der Verurteilte seine Rechte und seine Güter, jedoch nicht seine Freiheit. Die Gerichtshöfe (auf Erlass vom 14. September 1944 einer pro Departement) und die Gerichtskammern werden zwischen 1948 und 1949 abgeschafft. Die Militärgerichte blieben weiterhin bestehen bis in die Jahre um 1950 und häufig wurden hier auch Urteile für Angeklagte in Abwesenheit gefällt. Für Minister, Staatssekretäre, allgemeine Regierungssekretäre und die oberste Verwaltung der Vichy-Regierung war der Oberste Gerichtshof zuständig. Die Urteile der Gerichte fallen zweifelsohne detaillierter aus als die von Militärgerichten, was unter Anbetracht der Orte und der Zeitabschnitte eher erstaunlich und unausgeglichen herrührt. Die Bilanz dieser gerichtlichen Säuberung ist ebenfalls schwierig zu ziehen, da auch hier präzise bzw. zuverlässige Aufzeichnungen für bestimmte Verurteilungen fehlen. Es ist jedoch möglich, eine gewisse Größenordnung zu bestimmen: 350.000 Akten, die bei den Gerichtshöfen und Militärgerichten eingereicht wurden. Von den Gerichtshöfen wurden 125.000 Personen angeklagt, von denen mehr als ein Drittel zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, 1.500 zu Geldstrafen und 50.000 zur nationalen Schädigung. Der Vollständigkeit halber müssen mehrere 10.000 Internierungen (120.000?) hinzugezählt werden, wo über mehrere Monate und nahezu zwei Jahre lang in den leeren Lagern von Drancy, Gurs und Noé Opfer der Vichy-Regierung unter nahezu unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden. Viele unter ihnen, die andere Opfer schützen wollten, weil sie öffentlich Missstände anprangerten.

Wurde auch die französische Verwaltung gesäubert?

Entgegen hartnäckigen Legenden muss gesagt werden, dass auch die Verwaltungen Objekt einer professionellen Säuberung waren. Dies betraf Mitarbeiter in unterschiedlichen Funktionen genauso wie die Präfektur, Lehrkörper oder Richter. Insgesamt 28.000 Funktionäre waren von Sanktionen betroffen, die von einem einfachen Verweis oder einer verzögerten Absetzung bis zum Entzug des Rentenanspruchs reichten. Bei der Polizei waren beispielsweise unter allen Dienstgraden 1.906 Polizisten der Präfektur (ca. 10% des Personals), 1.136 (18,9%) Polizisten der Nationalen Sicherheit, 2.423 (5,24%) Polizisten der „regionalen Staatspolizei“ und 4.108 (34,5%) der GMR von den Sanktionen betroffen. Diese Säuberung war äußerst gewaltsam, tiefgreifend und langwierig (die Kommission zur Säuberung der PP tagte ein Jahr, von September 1944 bis September 1945, während die Auswirkungen der Säuberung – Streitigkeiten über administrative Angelegenheit, Revisionen zu Machtmissbrauch, Amnestien, Wiedereingliederungen usw. – bis in die Jahre um 1970 andauerten). Es handelte sich eine Säuberung mit gewissem Automatismus, ausgeführt von den Polizisten selbst, die sich das Recht herausnahmen, interne, persönliche, gewerkschaftliche, hierarchische und politische Angelegenheiten selbst zu regeln. Die auf diese Weise frei gewordenen Stellen wurden spektakulär neu besetzt. Hinzu kommt die Streitsucht eines Teils der besorgten Kommunisten, denen daran gelegen war, ihre verhafteten Kameraden zu rächen. Sie operierten jedoch hauptsächlich über frei gewordene Arbeitsplätze, d. h. sie verfolgten die Taktik des diskreten und dennoch massiven Entrismus in den Hochburgen des Staats. So wurde ein Kommunist und Bahnarbeiter zum Generalinspektor mit dem Titel eines Präfekten, der den Vorsitz über die „Säuberungskommission“ innehatte und die Sitzungen wurden von einer „Säuberungssektion“ vorbereitet, angeleitet von einem Inspektor der militanten Kommunisten unter dem Decknamen „Robespierre“. Die am meisten unbestreitbaren Auswirkungen dieser Säuberung waren die Entlassung aus dem Dienst, das Infragestellen des Eifers der Opfer aus Polizeikreisen sowie die Absprache ihrer Kompetenz und Effizienz. Die Folgen waren professionelle Schwächen, Inkompetenz und eine Vorsicht, die die Polizei nach Kriegsende nahezu lähmte und somit auch teilweise die Zunahme und Straffreiheit für Verbrechertum erklärt, das sich unter der „Gestapo Frankreichs“ ausbreitet.

In einem Ihrer Werke erinnern Sie an die Ausschreitungen im zahnmedizinischen Institut in Paris. Können Sie uns diese Geschichte erzählen?

Was sich im zahnärztlichen Institut in der avenue de Choisy im 13. Arrondissement abspielte, ist beispielhaft für diese Säuberung. Es verdeutlicht das Zusammenspiel der GPRF, der Franc-Tireuer und der Partisanen, die gehorsam der kommunistischen Partei folgen. Es zeigt die Rivalitäten gegenüber der FFI und der FTP, illegale Inhaftierungen, illegale Verurteilungen durch das „Volksgericht“ sowie Exekutionen von Menschen, die für die einen die Kooperation überstanden haben, für die anderen jedoch als „abtrünnige“ Kommunisten galten oder normale Bürger, die aufgrund von öffentlichen Gerüchten oder Verleumdungen aus der Nachbarschaft, durch Konkurrenten oder Rivalen, die alte Rechnungen begleichen wollten, verfolgt wurden. Hier findet man ebenso Beispiele für zwei verschiedene Zeiträume der Säuberung: Gefangennahmen und nahezu „legale“ Exekutionen bis zum Ende der Kampfhandlungen und dann ab dem 7. September, während die republikanische Rechtssprechung dem Leiter des zahnärztlichen Instituts befiehlt, die Gefangenen der Polizei und der Justiz zu übergeben, nächtliche Exekution am Ufer der Seine, wo die Leichen mit Steinen beschwert und in den Fluss geworfen wurden, da die Mörder ganz genau wussten, dass ihre Taten illegal waren und sie deshalb sämtliche Spuren verwischen wollten. Zwischen 40 und 46 Personen, darunter 11 Frauen, wurden auf diese Weise hingerichtet. Hinzu kommen der systematische Diebstahl an Opfern, Wohnungsplünderungen, Misshandlungen und barbarische Taten, die charakteristisch waren für diese Art der Säuberung. Dies passierte nicht nur in Paris sondern auch in Alpes-Maritime und Périgord. Obwohl das zahnärztliche Institut nicht das einzige Zentrum des Terrors in Paris war, so war es doch das bedeutendste und das einzigste, dessen Bilanz vergleichbar ist mit den Taten in Pamiers, Nîmes, Limoges, Périgueux, Pressac, Nizza, Antibes usw.


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