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Die Gymnasiasten aus Metz vor dem Buch der Namen in Auschwitz, Februar 2018
Die Gymnasiasten aus Metz vor dem Buch der Namen in Auschwitz, Februar 2018

Zusammenfassung

    Zusammenfassung

    DATUM: Juli 1942

    ORT: Frankreich

    HERAUSGEGEBEN: Verhaftung von Henri Borlant, 15 Jahre, und Deportation nach Auschwitz-Birkenau

    Henri Borlant ist das einzige jüdische Kind unter 16 Jahren, das Auschwitz nach seiner Festnahme 1942 überlebt. Nach der Deportation im Juli überlebt er drei Jahre im Todeslager. Nach seiner Rückkehr wird er Arzt. Als ihm die Redaktion vorschlägt, Schüler des Gymnasiums für Kommunikation in Metz zu treffen, antwortet er: „Das ist meine Aufgabe“.

    Ich erzähle Ihnen nun meine Geschichte. Ich wurde am 5. Juni 1927 in Paris geboren. Ich bin das vierte von 9 Geschwistern. Meine Eltern waren russische Juden, die vor dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1912 nach Frankreich gekommen waren, weil sie von der Demokratie träumten. Zu Ende des Schuljahres 1939 kommen Kriegsgerüchte auf. Die Behörden im 13. Arrondissement von Paris befürchten Bombardierungen. Wie in anderen Stadtteilen mit vielen Kindern wird deren Abreise organisiert. Man setzt meine Mutter, meine Geschwister und mich also in einen Zug, der uns in ein kleines Dorf südlich von Angers bringt. In der Nacht bringt meine Mutter meine jüngste Schwester zur Welt. Am nächsten Tag, dem 1. September, wird die Generalmobilmachung durch Aushang bekanntgegeben. Ich werde in der Schule eingeschrieben und erhalte vom unterrichtenden Priester eine katholische Erziehung. Bald schon werde ich getauft, mache meine Erstkommunion, dann die Firmung und werde sehr gläubig. Mit 14 Jahren komme ich aus der Schule und finde eine Stelle in der Werkstatt nebenan. Wir waren glücklich, weil wir zusammen waren und die schönen Seiten am Land entdeckten, während es in Paris viele Einschränkungen gab.

    Mitten in dieser Ruhe holen uns am 15. Juli 1942 deutsche Soldaten ab. Sie haben unsere Namen und unsere Adresse. Mein Vater war nicht auf der Liste. Ich war 15 Jahre alt, war auf der Liste, genauso wie mein Bruder Bernard und meine Schwester Denise. Ich dachte, Deutschland würde Arbeitskräfte brauchen und ich solle dort arbeiten. Aber meine Mutter stand auch darauf. Ich war auf so etwas nicht vorbereitet. Sie konnte nicht arbeiten. Ich verstand das nicht. Wir sind auf das Lastauto gestiegen und es fuhr los. Unterwegs nehmen sie weitere Familien fest. Nach der Ankunft im Seminar von Angers werde ich von meiner Mutter und meiner Schwester getrennt. Am nächsten Tag kommt mein Vater zu mir und meine Mutter wird in das Dorf zurückgeschickt. Wir sind fünf Tage im Seminar geblieben.

    Eines Morgens werden wir in Tierwaggons geladen, die weder Fenster noch Sitze haben und in denen wir uns nicht ausstrecken können. Ich werde meine Schwester, die von uns getrennt wurde, nicht mehr wiedersehen. Der Zug bleibt vor seiner Abfahrt stundenlang stehen. Die Leute beginnen kurze Nachrichten zu schreiben, die sie durch die kleine Luke werfen. Auch ich mache das: „Mama, scheinbar fahren wir in die Ukraine, um bei der Ernte zu helfen.“ Später erfahre ich, dass meine Mutter die Nachricht von einem Eisenbahner erhalten hat.

    Die Fahrt dauert 3 Tage und 3 Nächte, ohne Essen und Trinken. Der Zug bleibt schließlich mitten auf einem Feld stehen. Man hört Schreie, Männer, Hunde. Beim Aussteigen werden wir aufgefordert, unser Gepäck zurückzulassen und wir müssen laufen. Man lässt uns in 5er-Reihen aufstellen und wir gehen ca. 2 Kilometer, bis wir zum Lager Birkenau kommen, das mit Stacheldraht umgeben ist, der unter Strom steht, wie wir sehr schnell erfahren. Wir werden zu einer großen Baracke geführt, bevor man uns Befehle erteilt: zuerst „Zieht euch ganz aus“. Vor aller Augen? Ja. Ich war sehr schamhaft. Es setzt erste Stockschläge. Ein weiterer Trupp kommt, der uns schert und rasiert. Ich sehe meinen nackten Vater mit kahl geschorenem Kopf. Dann bekommen wir eine Tätowierung. Diese Nummer ist unser Name, unsere Identität. Ich werde zur 51.055. Im Lager gibt es Franzosen, zumeist Widerstandskämpfer und Kommunisten, die neben ihrer Nummer ein rotes Dreieck tragen. Ein Buchstabe zeigt die Nationalität an. Die Grausamsten tragen grüne Dreiecke, ehemalige Verbrecher. Sie sind oft Chefs von Kommandos.

    Wir bekommen Kleidung, die bereits von kranken Menschen oder von solchen getragen worden war, die darin zweifelsohne gestorben sind. Die Schuhe sehen aus wie Holzsandalen. Mit ihnen zu laufen ist sehr schwierig. Bald schon haben wir alle Blasen an den Füßen. Wir werden angeschrien, geschlagen, können nicht trinken und verhungern fast. Jeden Tag kommen Züge mit neuen Deportierten. Sie sagen uns: „Ihr seid hier in einem Vernichtungslager. Außer über den Schornstein des Krematoriums kommt ihr von hier nicht weg.“ Es herrscht Panik. Ja, so hat das angefangen.

    Henri Borlant écolier

    écolier

    © Collection Henri Borlant

     

    WAS WAR DAS EINSCHNEIDENSTE EREIGNIS WÄHREND IHRER DEPORTATION?

    Ich glaube, das war der Hunger. Wenn man fast verhungert, ist man kein wirklicher Mensch mehr. Der Kopf ist nicht frei, man nimmt ab, man strengt sich über die Maßen an. Ich kenne den Hunger, den jene erlebt haben, die man heute auf den Archivdokumenten sieht, wie Skelette, die nur noch die Haut auf den Knochen haben. Ich kenne diejenigen, die daran gestorben sind. Das Wort Hunger, das ihr verwendet, wenn ihr das Mittagessen weglasst, bedeutet nicht das gleiche. Wir haben etwas erlebt, was man nicht mit Worten beschreiben kann. Wenn man solchen Hunger hatte wie ich, gibt es keinen Traum mehr, gar nichts mehr. Der Hunger lässt einen nicht los.

     

    KONNTEN SIE MIT IHRER FAMILIE ZUSAMMENBLEIBEN?

    Nach der ersten Woche in derselben Baracke mit meinem Vater wurden wir getrennt. Ich sah ihn manchmal am Abend. Nach einem Monat sagte er zu mir: „Ich bin 54 Jahre alt, ich werde es nicht mehr lange schaffen. Du musst durchhalten, denn deine Mutter braucht dich.“ Nach sechs Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Zwei Monate später wurde ich nach Auschwitz I geschickt und von meinem Bruder getrennt, den ich nicht mehr wiedersah. Ich blieb ein Jahr in Block 7, der von einem Barackenaufseher mit grünem Dreieck geleitet wurde, einem völlig Wahnsinnigen. Nach einem Jahr werde ich nach Birkenau zurückgeschickt. Es war zu einem riesigen Lager geworden. Ich suche meinen Bruder, finde ihn aber nicht.

    Lettre rédigée par le cheminot pour accompagner le mot adressé par Henri Borlant à sa mère et jeté à travers la lucarne du train avant de partir pour Auschwitz

    lettre

    © Collection Henri Borlant

     

    WAR ES IN EINEM LAGER MÖGLICH FREUNDSCHAFTEN ZU SCHLIESSEN?

    Das war nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig, um zu überleben. Es gab niemanden, der ohne gegenseitige Hilfe überleben konnte. Es gibt einen Moment, in dem man ganz allein nicht mehr kann. Es gibt einen Moment, in dem man 40 Grad Fieber hat und den man nicht überlebt, wenn man nicht von beiden Seiten gestützt wird, um beim Appell nicht zusammenzubrechen. Es gab auch moralische Unterstützung: Menschen, die mit mir sprachen, die mir Mut machten und mir sagten, dass sie da sind. An anderen Tagen sollte ich für sie da sein. Menschen derselben Sprache versuchten sich in Gruppen zusammenzutun. Als wir dann mehrere waren, sahen wir die Gefahr von allen Seiten kommen, wir warnten einander, was zum Überlebenskodex gehörte.

    Alle, die ich im Lager kennengelernt habe, sah ich später regelmäßig wieder. Es waren die einzigen, mit denen ich über das Leben in den Lagern sprechen konnte. Den Arzt Désiré Hafner, der mir später riet Arzt zu werden, kannte ich bis zu seinem Tod. Ich habe seinen Bericht protokolliert und wir haben eine DVD für die Stiftung zur Erinnerung an die Deportation gemacht... Ich habe ein gutes Dutzend Kollegen angerufen, die ich interviewete, wunderbare Menschen, die all das durchgemacht hatten. Wissende Leute, denn sie haben dasselbe erlebt. Niemand konnte uns so gut verstehen wie diejenigen, die denselben Weg gegangen waren.

     

    WIE ERKLÄREN SIE ES, DASS SIE DREI JAHRE NACH DER DEPORTATION NOCH AM LEBEN WAREN?

    Ich kann es nicht erklären. Ich war 15 Jahre alt und sehr zerbrechlich. Ich hätte wirklich nicht auf mich gesetzt. Dennoch habe ich den Typhus, die Tuberkulose usw. überlebt. Und die Lust zu leben ist etwas, das es wirklich gibt. Manche sagten sicht: „Es lohnt sich nicht zu leiden um zu sterben“ und sie ergriffen den elektrischen Stacheldraht. Es gab so manchen Selbstmord. Aber die meisten sagten sich, man müsse selbst unter diesen Bedingungen versuchen zu überleben, einen weiteren Tag und noch einen und noch einen. Wenn ich Ihnen das erzähle, möchte ich einen Satz hinzufügen, der nicht von mir stammt sondern von La Fontaine, im Märchen „Der Tod und der Holzfäller“: „Lieber leiden als sterben. So lautet die Devise des Menschen.“ Man leidet, man ist unglücklich, aber man klammert sich ans Leben.

    Le général Eisenhower et ses hommes découvrent des prisonniers exécutés par les nazis au camp d’Ohrdruf, le 5 avril 1945

    camp

    © Keystone-France

     

    WIE IST IHRE BEFREIUNG ABGELAUFEN?

    Im Oktober 1944, als die Russen näher kamen, wurden mehrere von uns in die Lager bei Berlin evakuiert. Jeden Tag flogen die alliierten Flugzeuge über uns hinweg. Ich wurde schließlich nach Ohrdruf geschickt, ein kleines Nebenlager von Buchenwald. Ich werde ein Neuling, das heißt, dass man mich die schlimmsten Arbeiten machen lässt. Eines Tages werde ich in einen Fleischerladen in der Stadt geschickt, um Essen für die SS zu holen. Während wir den Lastwagen be- und entladen, nähert sich ein Kriegsgefangener und sagt zu mir (er war Franzose): „Halte durch, es dauert nicht mehr lange, die Amerikaner sind nicht mehr weit weg und wenn du dich retten kannst, werden dich meine gefangenen Kameraden und ich verstecken. Der Fleischer hier ist ein Nazigegner. Du kannst dich ihm anvertrauen.“ Eines Tages, in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1945, als wir wussten, dass die Amerikaner kommen, sind ein Kamerad und ich geflohen, da wir die Zwangsräumung, diese Todesmärsche, vermeiden wollten. Wir sind zu dem Fleischer, der uns Gefangenenkleidung gab. Am nächsten Tag kommen die Amerikaner. Ich bin frei. In ihrem Jeep fahren sie uns ins Lager Ohrdruf. Wir hatten das dringende Bedürfnis zu erzählen und zu zeigen, was geschehen war. Am 13. April bin ich im Repatriierungszentrum. Am 16. komme ich in Montigny-Lès-Metz an. Dort ist die Kontrolle der Papiere sehr streng. Ich habe keine. Ich gehöre in keine Kategorie: Gefangene, Unerwünschte, Arbeiter. Deportierte kennen sie nicht. Einer meiner Kameraden, dem man mitteilt, dass ihn seine Frau am Ostbahnhof erwartet, nimmt mich mit. Im Süden von Paris angekommen, essen wir das erste Mal in Frankreich. Das Telefon klingelt und man sagt mir „wir haben deine Mutter gefunden, sie wartet in ihrer Pariser Wohnung mit deinen Geschwistern auf dich.“ Ich hätte nicht geglaubt, sie wiederzusehen. Ich hatte mir immer gesagt, sie wäre zweifelsohne in einem der vielen Konvois nach Auschwitz gekommen. Ich fahre zu ihr. Sie hat mir keine Fragen gestellt und ich habe ihr nie etwas erzählt.

     

    WAS WAR NACH IHRER RÜCKKEHR AM SCHWIERIGSTEN?

     

    Es war nicht schwer, als ich zurückgekommen bin! Ich war in Paris, 17 Jahre alt, ich hatte die Zukunft vor mir und glaubte, nichts wäre mehr schwierig, nachdem ich das erlebt hatte. Vor allem habe ich meine Mutter wieder gefunden, ich konnte sie in meine Arme schließen und ihr sagen, wie sehr ich sie liebte. Dieses Glück hatten nicht alle. Zwei Jahre nach meiner Rückkehr inskribierte ich an der medizinischen Universität, da ich vor der Deportation keinen Abschluss gemacht hatte. Innerhalb von zwei Jahren bestand ich meine mittlere Reife und mein Abitur. Ich habe nie abgerüstet. Ich wurde Arzt, ein Beruf, den ich gerne ausübte. Ich hatte eine Praxis am Boulevard Richard Lenoir in Paris. Eines Tages behandelte ich eine deutsche Patientin, die mir ein Freund geschickt hatte. Sie hatte ihre Eltern verlassen, nachdem sie das Drama der Shoah entdeckt hatte. Sie kam einige Zeit später zurück und ich habe sie eingestellt. Wir verliebten uns, heirateten und bekamen drei wunderbare Töchter. Sie wartet zu Hause auf mich.

    Es gab weitere zufriedene und glückliche Momente, wie jenen, als mir der Präsident der Republik einen Orden im Elysée anheftete und eine kurze Ansprache hielt. Zu diesen glücklichen Augenblicken zählt auch das, was ich mit euch mache, das heißt, gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, das ist wichtig. Vor allem bin ich mir bewusst, dass es nicht allen immer gegeben ist, glücklich zu sein, etwas zu essen zu haben, wenn man Hunger hat, mit der Frau zusammen zu sein, für die man sich entschieden hat, das ist Glück. Wenn man das überlebt hat, was ich überlebt habe, ist es dumm, sein Leben zu vergeuden.

    Henri Borlant à son retour des camps, 1945

    retour

    © Collection Henri Borlant

     

    WENN MAN ETWAS ERZÄHLT, ERLEBT MAN ES AUF EINE GEWISSE WEISE WIEDER. IST ES FÜR SIE DAHER SCHWIERIG, IMMER WIEDER ZU ERZÄHLEN?

    Nein, nein... Ich hatte beschlossen, nie mehr nach Auschwitz zurückzukehren. Ich wurde oft gebeten, Schüler und Studenten dorthin zu begleiten. 1995 wurde ich von einer Professorin für Geschichte kontaktiert, deren Studenten eine Arbeit und Ausstellung zum Thema „Die Befreiung der Lager und die Rückkehr der Deportierten“ machten. Ich gab ihnen daher die Kassetten mit den Berichten, um zu ihren Überlegungen beizutragen. Sie bitten mich, Serge Klarsfeld zu kontaktieren, damit er bei der Eröffnung der Ausstellung anwesend sei. Ich kannte ihn nicht persönlich. Aber ich rief ihn trotzdem an und sagte ihm, dass ich das Buch, das er über die Deportation der Kinder geschrieben hatte, gelesen und ein Foto meines Bruders gesehen habe. Er sagt zu mir: „Ah, wie heißen Sie?“, ich sage ihm meinen Namen und er sieht in seinen Listen nach. Er sagt: „Ich habe Sie nicht als Überlebenden vermerkt, sind Sie nicht über das Hotel Lutétia zurückgekehrt?“; „Nein, ich bin früher heimgekommen.“ Er hat mich zu den Überlebenden hinzugefügt und akzeptierte dann zu kommen... Damals bat er mich, Schüler der Abschlussklasse der Region Rhône-Alpes, die gleich alt waren wie ich zum Zeitpunkt meiner Deportation, mit ihm zusammen nach Auschwitz zu begleiten. Ich sagte zu, weil ich mich nicht traute nein zu sagen und als ich auflegte, sagte meine Frau zu mir: „Aber du bist krank, du weißt, dass du bei der Vorstellung, dorthin zu fahren, vor Angst zitterst.“ Als die Jugendlichen mit ihrem Lehrer zum Flughafen Lyon kamen, sagte er zu ihnen: „Das ist Henri Borlant... er war im Juli 1942, als er verhaftet wurde, 15 Jahre alt, so wie ihr jetzt. Es gab 6.000 Kinder unter 16 Jahren, die 1942 verhaftet wurden und von den 6.000 ist er der einzige Überlebende.“ Das versetzte mir einen schweren Schock. Seither sage ich mir, dass ich mich nicht weigern darf zu berichten, da ich weiß, dass ich der einzige Überlebende einer so großen Zahl von Kindern bin, die ermordet wurden.

     

    SIE HABEN „MERCI D’AVOIR SURVÉCU“ (DANKE, DASS ICH ÜBERLEBT HABE) VERÖFFENTLICHT. WANN SIND SIE AUF DIE IDEE GEKOMMEN, IHRE ERLEBNISSE AUF PAPIER ZU BRINGEN?

    Es gab einen Moment, als ich mir sagte: „Wenn du es nicht jetzt tust, wirst du es nie mehr tun.“ Dieser schriftliche Bericht fehlte mir. Ich bin kein Schriftsteller, daher habe ich meine Geschichte Leuten erzählt, die es hören wollten, aufnehmen usw. Ich versuchte es zwei Mal und war nicht zufrieden. Daher sagte ich mir: „Ich muss es selbst machen.“ Also begann ich zu schreiben. Als das Buch herauskam, fand es einen größeren Widerhall als alle meine Filmberichte. Ein Journalist fragte mich: „Warum haben Sie das nicht früher geschrieben?“, ich antwortete: „Weil ich kein Schriftsteller bin.“ Ich beantworte lieber eure Fragen, denn ich sehe euch und ich weiß, auf welche Wissbegierde ich antworte, das ist etwas ganz anderes, und ich mache das mit Freude. Ich erinnere mich, dass man mich vor langer Zeit einmal fragte: „Haben Sie sich schon einmal geschämt, Jude zu sein?“ Damals antworte ich: „Geschämt, Jude zu sein? Nein, nein, ich habe mich nie geschämt... Ich hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt Angst...“. Ich dachte tagelang darüber nach, das ging mir nicht mehr aus dem Kopf... Dann kamen mir Antworten, die für mich zufriedenstellend waren. Ich habe mich nicht geschämt, Jude zu sein, ich habe mich geschämt, Angst zu haben und habe diese Angst überwunden. Diese Angst behielt ich dennoch eine gewisse Zeit, dann ist sie eines Tages verschwunden.

    Henri Borlant témoigne devant les lycéens de Metz, 29 mars 2018

    metz

    © Vaea Héritier

     

    MACHT ES IHNEN HEUTE NOCH ETWAS AUS, IMMER NOCH IHRE TÄTOWIERUNG AUF IHREM ARM ZU SEHEN?

    Ja, es macht mir etwas aus. Es ist nicht einfach eine Tätowierung, eine Nummer. Es ist genau die 51.055. Diese Nummer, das heißt, es ist der 23. Juli 1942, als ich 15 Jahre, einen Monat und 10 Tage alt war, dass ich in dieses Vernichtungslager gebracht wurde, dass ich fast drei Jahre lang überlebt habe und mich gegen den Plan der Nationalsozialisten wehrte, uns in Asche und Rauch zu verwandeln. Das ist etwas, auf das ich stolz bin. Die Nationalsozialisten verbrannten uns, um uns verschwinden zu lassen, damit niemand etwas erfährt, und ich bin heute da und zeige euch diese Tätowierung. Es gibt Leute, die an Olympischen Spielen teilnehmen und eine Goldmedaille heimbringen. Diese Tätowierung ist meine Goldmedaille. Sie bedeutet, dass nur sehr wenige diesen Weg geschafft haben, dass ich ihn mit Krankheiten, Schlägen und Hunger ausgehalten habe. Ich bin da, leibhaftig, und prangere heute alle diese Sachen immer noch an. Ich wollte diese Tätowierung nie entfernen lassen. Anfangs habe ich sie versteckt, weil ich fürchtete, dass mir die Antisemiten Böses antun würden. Aber heute zeige ich sie euch, ich brauche sie nicht zu verstecken. Mit dieser Tätowierung kämpfe ich gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und ich kämpfe auch für die Verteidigung der Demokratie.

    Es gibt etwas, auf dem ich bestehen muss. Ich gehöre zu denjenigen, die diese Zeit erlebt haben, die vier lange Jahre gedauert hat, als Frankreich von Marschall Pétain, Pierre Laval usw. geführt wurde. Sie haben mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet, sie haben unschuldige Menschen verhaftet. In diesen vier Jahren wurden mein Papa, mein Bruder, meine Schwester, meine Großeltern getötet, es wurden unzählige Kinder und Babys getötet, das ging jahrelang so und dann haben die Nazi verloren und ich konnte heim, ich konnte mein Land wieder mit einer demokratischen Führung vorfinden. Es gibt viele Länder auf der Welt, und Abermillionen von Menschen, denen eine solche Demokratie vorenthalten wird und die uns beneiden. Diese Demokratie haben wir geerbt, wir haben sie erhalten. Es gab Menschen, die haben ihr Blut dafür vergossen, sich von der Alleinherrschaft zu befreien. Wir haben das Wahlrecht und erfreuen uns daran, wir können gehen und kommen, wir können reden, für oder gegen etwas sein, das ist Glück. Wenn man dieses Recht wie ich verloren hat und es wiedererlangt, kennt man den Wert. Die Demokratie kann verloren gehen, wenn sich die Menschen nicht dafür interessieren, wenn sie nichts wissen wollen. Bei den Wahlen zeigt sich, dass es einen hohen Prozentsatz von Menschen gibt, die nicht wählen gehen. Ihr seid junge, gebildete Leute. Ihr müsst suchen, nachdenken, eure Wahl treffen und lernen, verantwortungsvolle Bürger zu sein.

    Portraits de déportés dans le bâtiment couramment appelé "Sauna" à Auschwitz-Birkenau

    déportés

    © DR

     

    WELCHE GEFÜHLE HABEN SIE NACH DEM KRIEG GEGENÜBER DEN DEUTSCHEN?

    Ich bedanke mich für diese Frage, denn sie ist sehr wichtig. Es sind nicht die Deutschen, es sind die Nazi, die ich hasse, ob sie nun Franzosen oder Deutsche sind. In dem Lager, in dem ich war, gab es Deutsche, die Nazigegner waren. Ich kann nicht vergessen, dass sie im Kampf gegen die Nationalsozialisten ihr Leben riskierten. Ich habe euch die Geschichte, als ich ein junges, hübsches Mädchen kennenlernte, deshalb erzählt, weil sie Deutsche war und ich sie geheiratet habe. Ihr Vater war im Krieg Soldat und als seine Tochter ihn nach Erklärungen fragte, sagte er: „Das ist vorbei und wir sprechen nicht mehr darüber.“ Das war der Punkt, an dem sie beschloss, nach Frankreich zu gehen. Ich bin nicht dagegen, dass man über Menschen, die Verbrechen begangen haben, richtet und sie ihrer Straftat entsprechend verurteilt. Die Gesellschaft braucht Gerechtigkeit, sie braucht keine Vergebung. Es dürfen nur die Opfer vergeben und niemand anderer.

    Autor

    Pierre-Mickaël Carniel, Jeanne Zeihen et Léa Caïd

    Ein neuer National- friedhof im Vercors

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    Friedhof am Pas de l’Aiguille.

    Denis Peschanski 2018

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    Denis Peschanski

    Das Fort de Queuleu

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    Einzelzellen des Nazi-Sonderlagers im Fort de Queuleu

    Auf den Spuren der Deportation

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    Platz der Ghettohelden, Krakau, Februar 2018

    Das Museum von Nantua

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    Poster of the exhibition Les Jours Sans (Days Without), held at the Nantua Museum. Plakat der im Museum von Nantua gezeigten Ausstellung „Les Jours Sans“.

    Raoul Villain

    1885-1936

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    Erkennungsdienstliche Akte. © Polizeipräfektur

     

    Villain wird am 19. September 1885 in Reims geboren und am 17. September 1936 auf Ibiza erschossen. Am Abend vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 31. Juli 1914, ermordet er Jean Jaurès. Während seines Prozesses im Jahr 1919 wird er freigesprochen.

     

    Der nationalistische Student

    Raoul Villain ist der Sohn von Louis Marie Gustave Villain, Hauptkanzleivorsteher am Zivilgericht in Reims, und von Marie-Adèle Collery, welcher 1887 eine geistige Störung attestiert wird, woraufhin sie in die psychiatrische Anstalt von Châlons-sur-Marne eingewiesen wird. Auch seine Großmutter väterlicherseits, Émélie Alba, litt an einer geistigen Störung. Während der Beerdigung dieser Großmutter verkündet er am Grab: "Es gibt Leute, die das Spiel der Deutschen mitspielen und somit den Tod verdienen!  ", nur kurze Zeit vor dem Mord am Jaurès. Er hat einen älteren Bruder, Marcel Villain, niederer Justizbeamter, Lieutenant der Luftfahrt und Offizier der Ehrenlegion, insbesondere geschätzt für seine hervorragenden Leistungen im Ersten Weltkrieg.

    Raoul Villain besucht zunächst die Jesuitenschule am Collège des Vororts Cérès, dann das Lycée seiner Geburtsstadt, das er jedoch ohne Abschluss verlässt. Im Oktober 1905 schreibt er sich an der Universität für Agrarwissenschaften in Rennes ein, wo er 1905 an Typhus erkrankt und nur knapp dem Tod entkommt. Aus seiner Polizeiakte geht hervor, dass er "vor seinem Militärdienst als sehr ernster, sehr freundlicher und gut gebildeter junger Mann galt", der "keinerlei schlechten Umgang hatte, keine Kneipen besuchte und auch keine Veranstaltungen".

    Im November 1906 wird er in das 94. Infanterieregiment in Bar-le-Duc eingebunden, bevor er 1907 als untauglich entlassen wird. Im Juni 1909 beendet er sein Studium an der Universität von Rennes als 18. seiner Klasse, die insgesamt 44 Studenten umfasste. Er arbeitet sechs Wochen in der Landwirtschaft im Arrondissement Rethel und kehrt anschließend zu seinem Vater nach Reims zurück. Im September 1911 führt ihn sein Weg ins Elsass. Von Oktober 1911 bis 29. Juni 1912 ist er als stellvertretende Aufsichtsperson im Collège Stanislas tätig und darf sich auf sein Abitur vorbereiten. Sein Professor für Rhetorik, Abt Charles, sagt über ihn "er mache einen sehr unglücklichen und lebensmüden Eindruck. Seinen Texten fehlen der Tiefgang, die Logik und die Konsequenz. Ich habe ihm einmal meine Befürchtungen vor den Bedrohungen des Krieges erläutert. Villain hörte mir zu. Er antwortete, "dass die Feinde von außen nicht die seien, vor denen man am meisten Angst haben müsse". Obwohl er sich seinem Umfeld gegenüber freundlich und höflich gibt, geht er keinerlei nähere Beziehungen ein und wird aufgrund seines Mangels an Autorität entlassen. 1912 hält er sich in England auf, davon sechs Wochen in London und ca. 10 Tage in Loughton, wohin er 1913 wieder zurückkehrt. Er wohnt bei Frau Annie Francis, die ihn laut The Observer, vom 6. Juni 1915, als "freundlichen und äußerst netten Mann" beschreibt. Im März und April 1913 reist er auch nach Griechenland und hält sich in Athen und Ephesos auf. Im Juni 1914 schreibt er sich an der École du Louvre für ein Studium der Archäologie ein. Laut Polizeiaktie "spricht der Vater seit sieben Jahren nur noch sehr traurig über seinem Sohn Raoul. Er ist exaltiert und instabil geworden und besessen von einem religiösen Mystizismus." Er kommt nur noch zweimal pro Jahr nach Reims und "erzählt nichts über sein Leben in Paris, wo er seit vier Jahren alleine lebt".

    Er ist  Mitglied des Sillon, einer christlich-soziale Bewegung unter Marc Sangnier, die 1910 durch Pius X verurteilt wird. Danach schließt er sich der "Liga der jungen Freunde von Elsass-Lothringen" an, einer ultra-nationalistischen und extrem rechts orientierten Studentengruppierung, wo er eine unbedeutende Rolle spielt. Jaurès wirft er vor, dass er sich gegen das Gesetz für einen 3-jährigen Militärdienst gestellt hat.

     

    Ermordung von Jean Jaurès

    Immer stärker entwickelt sich in Raoul Villain die Idee, Jaurès zu ermorden. Er kauft sich einen Revolver, beginnt den Führer der Sozialisten zu verfolgen und kritzelt zusammenhanglose Informationen über dessen Gewohnheiten in sein Notizbuch.

    Am Freitag, 31. Juli 1914 um 21.40 Uhr sitzt Jaurès mit seinen Mitarbeitern beim Essen zusammen. Er sitzt mit dem Rücken gegen ein offenes Fenster im Café du Croissant, 146 rue Montmartre in Paris (2. Arrondissement). Raoul Villain zieht mit Gewalt den Vorhang zurück, richtet den Revolver auf sein Opfer und drückt zweimal ab. Eine Kugel trifft den sozialistischen Tribun in den Kopf und er sinkt sofort in sich zusammen.

    Der Schütze versucht, über die rue de Réaumur zu fliehen, wird aber von Tissier, Layouter von L'Humanité, gesehen, der ihn verfolgt und ihn mit seinem Stock niederschlägt und dann mithilfe eines Polizisten am Boden immobilisiert. Auf dem Weg zur Polizeidienststelle ruft er: "Sie müssen mich nicht so fest fesseln, ich habe nicht die Absicht zu fliehen. Nehmen Sie lieber den Revolver, der sich in meiner linken Tasche befindet. Er ist nicht geladen. "

    Diese Ermordung, drei Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, löst voreilig Feindseligkeiten aus, insbesondere durch die Genehmigung des Beitritts der Linken, einschließlich bestimmter Sozialisten, die zunächst gezögert hatten, zur "Union sacrée".

     

    Der Prozess

    Raoul Villain muss lange auf seinen Prozess warten und verbringt den gesamten Ersten Weltkrieg in Haft. In einem Brief, den er am 10. August 1914 im Gefängnis Santé an seinen Bruder schreibt, bestätigt er: "Ich habe den Anführer niedergestreckt, den großen Verräter der Epoche des Gesetzes über den 3-jährigen Militärdienst, den mit der großen Klappe, der die Aufrufe von Elsass-Lothringen unter den Teppich kehrte. Ich habe ihn bestraft und das war das Symbol des ersten Neubeginns, für Frankreich und für das Ausland." Die Untersuchung wird von Untersuchungsrichter Drioux geleitet.

    Der Prozess beginnt am 24. März 1919 vor dem Schwurgericht der Seine, vor äußerst patriotischem Hintergrund und nach 56 Monaten Untersuchungshaft. Der Angeklagte wird von den Anwälten Henri Géraud und Alexandre Bourson, auch Zévaes genannt, ehemaliger Abgeordneter der Sozialisten, verteidigt. Am letzten Verhandlungstag erklärt Villain "ich bitte um Vergebung für das Opfer und für meinen Vater. Der Schmerz einer Witwe und einer Waise lässt mich nicht mehr glücklich werden." Die Geschworenen müssen sich zwei Fragen stellen: 1.) Ist Villain des Mordes an Jaurès schuldig? 2.) Handelte es sich um einen vorsätzlichen Mord? " Nach kurzer Beratung und mit 11 zu 1 Stimmen, werden diese Fragen am 29. März 1919 verneint. Raoul Villain wird freigesprochen. Der Vorsitzende ordnet die Freilassung an und ehrt den Angeklagten als vorbildlichen Patrioten. Das Gericht beschließt einen Schadensersatz von einem Franken sowie Zinsen für die Zivilklage und verurteilt diese zur Rückzahlung der Prozesskosten an den Staat. Frau Jaurès wird somit verurteilt, die Prozesskosten zu zahlen.

    Als Reaktion auf dieses Urteil verfasst Anatole France, Eigentümer von La Béchellerie, einen kurzen Brief an die Redaktion von L'Humanité, der am 4. April erscheint: "Arbeiter, Jaurès hat für Euch gelebt und er ist für Euch gestorben. Ein unerhörtes Urteil verkündet nun, dass seine Ermordung kein Verbrechen gewesen sei. Dieses Urteil macht Euch und alle, die Eure Sache verteidigen, zu Gesetzesbrechern. Wacht auf, Arbeiter! " Sofort nach Veröffentlichung des Artikels kommt es zu einer Demonstration, organisiert von der Gewerkschaft der Arbeiter und der Sozialistischen Föderation der Seine, die sich am Sonntag, 6. April entlang der avenue Victor-Hugo bis nach Passy bewegt, dem Wohnort von Jaurès.

     

    Der Tod von Raoul Villain

    Aufgrund der feindlich gestimmten und von den Gewerkschaften der Arbeiter organisierten Demonstrationen ist Raoul Villain gezwungen, Auxerre im April 1919 überhastet zu verlassen. Er kehrt in die Anonymität von Paris zurück und wohnt in der rue Jean-Lantier, Nr. 7 unter dem Namen René Alba. Am 19. Juli 1920 wird er in einem Cafe in Montreuil, an der Kreuzung der rue Douy-Delcupe und der rue de Vincennes wegen Geldhandels festgenommen, und versucht sich aus Verzweiflung zu erwürgen. Am 23. Juli 1920 kommt er wieder auf freien Fuß. Erst am 18. Oktober 1920 wird er dann von der 11. Staatsanwaltschaft aufgrund seines mentalen Zustands zu nur 100 Franken Bußgeld verurteilt. Im September 1921 schießt er sich im Arbeitszimmer seines Vaters im Justizpalast von Reims zwei Kugeln in den Bauch, aus Protest, weil dieser seine Heiratsvorhaben missbilligte.

    Er emigriert nach Danzig, wo er seinen Lebensunterhalt als Croupier bestreitet. Von dort aus führt ihn sein Weg nach Memel, wo er bis 1926 lebt. 1932 lässt er sich auf der Baleareninsel Ibiza, Spanien nieder. Dank einer Erbschaft gelangt er zu Geld und mietet sich in einem Hotel in der Nähe von Santa Eulària, oder genauer cala Sant Vicenç, ein, wo er unter den Einwohnern als "der Irre vom Hafen" bekannt ist. Unterstützt von einigen Freunden, Laureano Barrau, spanischer Impressionist, und Paul-René Gauguin, Enkel des Malers, beginnt er mit dem Bau eines bizarren Hauses direkt am Meer. Das Haus, das noch heute existiert, wurde nie fertiggestellt.

    Kurz nach Ausbruch des Krieges in Spanien verbünden sich am 20. Juli 1936 die militärische Garnison und die Sicherheitskräfte der Insel mit den Faschisten. Die Republikaner in Barcelona senden ein Sonderkommando unter der Führung von Kommandant Bayo, um die Balearen zurückzugewinnen. Am 8. August kommt das Kommando auf Ibiza an.  Am 9. und 10. September trifft eine Kolonne aus nahezu 500 Anarchisten unter der Flagge "Cultura y Acción" auf Ibiza ein und es kommt zu 114 Toten. Am 12. und 13. September wird die Insel von der italienischen Luftwaffe bombardiert und inmitten dieses Chaos wird Raoul Villain von den Anarchisten hingerichtet.

    Er wird auf dem Friedhof Sant Vicent de sa Cala auf Ibiza beerdigt und in der Basilika Saint-Remi in Reims wird ein Trauergottesdienst abgehalten. Auf dem Nordfriedhof von Reims findet man ein Grab, das seinen Namen trägt (und seiner gedenkt) und das neu angelegte Grab seiner Eltern. Trotz der Bitten der Familie wurden seine sterblichen Überreste jedoch niemals nach Reims überführt.

     

    Warum wurde Raoul Villain freigesprochen?

    Der Mörder von Jaurès, zum Zeitpunkt der Tat im Jahr 1914 29 Jahre alt, hatte eine labile Persönlichkeit. Der jüngere Sohn eines leitenden Justizbeamten im Zivilgericht in Reims leidet unter der Last eines schwierigen Erbes: seine Mutter wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und seine Großmutter väterlicherseits litt an einem mystischen Delirium. Nach dem Abbruch seiner Sekundarausbildung und Jahren der Ungewissheit wird er 1906 an der Universität für Agrarwissenschaften in Rennes aufgenommen, wo er an Typhus erkrankt, was neurologische Probleme nach sich zieht. Wieder genesen, leistet er seinen Militärdienst ab, macht seinen Schulabschluss und sagt sich dennoch von seiner Arbeit als Landwirtschaftsingenieur los. 1904 erliegt er den Verführungen des sozialen Katholizismus von Marc Sangnier, er tritt dem Sillon bei und findet dort eine Wärme, die ihm bis dato gefehlt hatte. Es scheint, als wäre die Verurteilung dieser Bewegung durch Rom im Jahr 1910 der Beginn seines Abgleitens. Besessen vom Elsass und von Lothringen, schließt er sich Ende 1913 oder Anfang 1914 der Liga der jungen Freunde von Elsass-Lothringen an, zu deren Kreis nicht nur dem Regime feindlich gesinnte Nationalisten angehörten, sondern auch überzeugte Republikaner.

    Villain wusste, dass Jaurès den 3-jährigen Militärdienst nicht billigte und dass er mit Streiks drohte, um gegen den Krieg zu protestieren. Fortan sah er in ihm "den mit der großen Klappe", den es zu bekämpfen galt. Nachdem er Zeuge antimilitärischer Demonstrationen in Paris am 29. Juli 1914 geworden war, wuchs seine Wut auf Jaurès. Er kauft sich einen Smith & Wesson Revolver und begibt sich am 31. um 21.40 Uhr zum Café du Croissant, wo Jaurès mit einem Dutzend Freunde beim Abendessen saß, um dessen Wirken unwiederbringlich ein Ende zu setzen. Er wird sofort festgenommen.

    Obwohl sein Prozess im Jahr 1915 stattfinden sollte, findet er erst 1919 statt. Ratspräsident Viviani, besorgt um die Union sacrée, hatte den Generalstaatsanwalt der Seine gebeten, eine Verschiebung zu unterzeichnen; all seine Nachfolger folgten diesem Beispiel. Nach der nahezu 5-jährigen "Untersuchungshaft", eine ungewöhnliche Dauer, die die Liga der Menschenrechte und bestimmte Freunde von Jaurès, darunter der Journalist Séverine, entsetzte, kam es vom 24. bis 29. März zum Prozess gegen Raoul Villain. Seine Verteidigung übernahmen die Anwälte Zévaès und Géraud, während Paul-Boncour und Ducos de La Haille die Anklage vertraten. Am 29. März beschließen die Geschworenen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit debattiert hatten, dass Villain nicht schuldig ist. Der Präsident des Schwurgerichts verkündigt somit den Freispruch. Die Kommentatoren prangerten die Haltung der Geschworenen an, indem sie auf deren Alter (alle über 50 Jahre) und ihre Zugehörigkeit zur Bourgeoisie hinwiesen. In Wirklichkeit befanden sich unter ihnen neben einem Privatier und einem Tierarzt ein Angestellter und mehrere Handwerker.

    Neben seiner Erblast, können auch weitere Faktoren dazu beitragen, das Urteil zu verstehen. Die Anwälte der Kläger ignorierten Villain und konzentrierten sich in ihrem Plädoyer auf das Gedenken an Jaurès. Es wurden über 40 Zeugen geladen (von denen nur 27 erschienen sind), was den Prozess in die Länge zog, sehr zum Leidwesen der Geschworenen, die gerne wieder ihren eigenen Geschäften nachgehen wollten. Als Beweis, dass die Ideen von Jaurès für das Vaterland und die Armee falsch dargestellt wurden, ging Anwalt Paul-Boncour sehr leichtsinnig vor, indem er lange Auszüge aus L'Action française und des Pamphletisten vorlas, was jedoch das Risiko barg, dass Jaurès in ein äußerst schlechtes Bild gerückt wurde. Die Anwälte von Villain hingegen gingen sehr geschickt vor. Schließlich war der Freispruch von Kriminellen in dieser Epoche keine Seltenheit (Henriette Caillaux wurde 1914 freigesprochen und Germaine Berton erhielt 1923 ebenfalls einen Freispruch).

    Nach den allgemein gültigen Regeln war Louise Jaurès verpflichtet, die Prozesskosten zu übernehmen, was jedoch durch kein schriftliches Dokument bestätigt wurde. Das Prozessprotokoll gibt über diesen Punkt keine Auskunft, die Angaben in den Zeitungen sind widersprüchlich.

    Auf das Urteil folgten riesige Demonstrationen, die gegen das Urteil protestierten. Raoul Villain führte ein abenteuerliches Leben und wurde 1936 auf Ibiza ermordet, wobei die Meinungen über den Täter auseinander gehen. Manche reden von einem Republikaner oder einem spanischen Anarchisten, für andere war es ein Franzose, der in Spanien kämpfte.

    John Monash

    1865-1931

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    Portrait de John Monash - 1918.
    Source : Wikimedia Commons - libre de droits

     

    John Monash wird am 27. Juni 1865 als Sohn preußischer Einwanderer in Melbourne, Australien geboren.

    Nach seinen Studien am Scotch College und an der Universität Melbourne arbeitet er als Ingenieur in der Privatwirtschaft, insbesondere am Bau einer Brücke über den Yarra-Fluss.

    Gleichzeitig studiert er 1884 an der militärischen Hochschule des 4. Bataillons der Miliz Victoria, dann 1887 in der Brigade der Artillerie, die er als Leutnant abschließt. 1895 wird er Hauptmann, 1897 Major und dient dann 1906 als Oberstleutnant in der Nachrichtentruppe. Am Vorabend vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs steht der zum Leutnant beförderte Monash an der Spitze der 13. Infanteriebrigade. 1913 veröffentlicht er sein Werk 100 hints for company commanders (100 Tipps für die Kommandoführung einer Kompanie), das als Handbuch für militärische Ausbildung gilt.

    Bei Kriegsausbruch übernimmt er das Kommando über die 4. Infanteriebrigade der AIF (Australian Imperial Force), eine der in Ägypten stationierten australisch-neuseeländischen Truppen unter Anzac. Nach schweren Kämpfen in der Region Gallipoli, wo die Truppen von Anzac zwischen April und Dezember 1915 schwere Verluste erleiden, trifft Generalmajor Monash im Juni 1916 an der Westfront ein.

    Er übernimmt das Kommando über die 3. Division und führt seine Männer im Sturm zum Sieg, indem er am 7. Juni 1917 den Kamm von Messines, Belgien einnimmt und dann die Kämpfe der dritten Schlacht von Ypres in Passchandaele (Juli – November) gewinnt. Der Generalleutnant und Nachfolger von Birdwood übernimmt im Mai 1918 das Kommando über die Truppen des australischen Korps. Unter seiner Führung gelingen im Juli weitere erfolgreiche Angriffe, wie z. B. die Eroberung von Hamel, verschiedene Operationen in der Somme, wo er über die deutschen Positionen quasi hinwegfegte sowie in Saint-Quentin, Péronne usw.

    Nach dem Waffenstillstand organisiert der Generaldirektor für die Rückführung und Demobilisierung den Rückzug und die Rückkehr der australischen Truppen. 1919 kehrt er nach Australien zurück. Als Pensionist ist er in verschiedenen zivilen Funktionen tätig, unter anderem als Generaldirektor der State Electricity Commission of Victoria.

    Er verstarb am 08. Oktober 1931 in Melbourne.

    Am 12. August 1918 wurde er von König George V zum Ritter des Bath-Ordens geschlagen.

    Guillaume Apollinaire

    1880-1918

    Aktie :

    Apollinaire im italienischen Krankenhaus. 1916. Quelle: Bibliothèque historique, Stadt Paris

    Der am 26. August 1880 in Rom geborene Wilhelm-Apollinaris de Kostrowitzky kommt im Alter von 18 Jahren nach Paris. Später bereist er Deutschland, wo er als Privatlehrer tätig ist. Nach seiner Einbürgerung in Frankreich nimmt er unter dem Namen Guillaume Apollinaire schon bald an den Literaturströmungen der Avantgarde teil. Zunächst wirkt er an "La Revue Blanche" mit, ehe er 1903 seine eigene Zeitschrift gründet, "Le Festin d'Esope". In den Cafés auf dem Boulevard Saint-Germain oder von Montparnasse, im Cabaret "Lapin Agile" oder im Künstleratelier "Bateau-Lavoir" trifft er mit Picasso, Alfred Jarry, Vlaminck, Max Jacob und vielen anderen zusammen. Neben erotischen Werken und kunstkritischen Aufsätzen für "L'Intransigeant" oder "Le Mercure de France" arbeitet Apollinaire an symbolistischer Lyrik. Derain illustriert seinen ersten Prosaband, "L'Enchanteur pourrissant" ("Der verwesende Zauberer"). 1912 ist er Mitbegründer der Zeitschrift "Soirées de Paris". Die Trennung von Marie Laurençin, mit der er seit 1909 zusammenlebte, inspiriert ihn zu seinem bekannten Gedicht "Pont Mirabeau".

    "Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine Und unsere Liebe Muss ich mich daran erinnern? Freude kam immer nach dem Leid."

    Der Kubismus, in seiner Kühnheit einer der wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen Kunst, findet auch in Apollinaire einen Anhänger. Er versucht, sie in verrenkten lyrischen Formen umzusetzen. 1913 erlangt er nach einer Reihe von Büchern über diese Schule mit "Alcools" ("Alkohol") Bekanntheit, einem Werk, in dem er auf jegliche Zeichensetzung verzichtet.

    1914 ist er in das kosmopolitische Leben von Montparnasse eingebunden. Nach einem Aufenthalt in der Normandie und an der Côte d'Azur begegnet er Louise de Coligny-Chatillon ("Lou"), an die seine später bekannt gewordenen Briefe gerichtet sind. Anlässlich der Mobilmachung beantragt er die französische Staatsbürgerschaft und tritt am 6. Dezember in Nîmes in das 38. Artillerieregiment ein. 1915 wird er an die Front verlegt, kämpft in der Champagne und wird Feldwebel (Maréchal-des-Logis).

    "Dieser Morast ist grässlich mit den triefenden Wegen Die Augen der Fußsoldaten sind von erbärmlicher Farbe Wir holen kein Holz mehr der Lorbeer ist geschnitten Die Liebenden werden sterben und es lügen die Liebenden" (Gedichte an Lou)

    An der Front korrespondiert er mit seiner späteren Verlobten Madeleine Pages sowie mit seiner Kriegspatin "Yves Blanc", einer Dichterin im Languedoc. Nach seiner Einbürgerung im März 1916 tritt er als Unterleutnant in das 96. Infanterieregiment ein.

    "Der Himmel heute Abend ist voller Sporen Die Kanonenschützen ziehen davon im Schatten schwer und forsch" (Gedichte an Lou)

    Am 17. März erleidet er in La Ville-aux-Bois (Département Aisne) durch einen Granatsplitter eine schwere Kopfverletzung; es müssen zwei Schädelhöhlenoperationen durchgeführt werden. Nach seiner Ausmusterung verzichtet Apollinaire auf die Heirat. Er schreibt erneut an zahlreichen Gedichten, darunter "Der gemordete Dichter". Gleichzeitig wendet er sich dem Theater zu: Am 18. Mai 1917 findet die Uraufführung von "Parade" statt, einem Ballet von Diaghilev, an dem er mitarbeitet und für das er dem Begriff "Surrealismus" prägt. Am 24. Juni findet die Premiere eines tatsächlich surrealistischen Stückes statt, "Die Brüste des Tiresias". Parallel dazu hält er Vorträge und arbeitet an einem Drehbuch zu einem Kinofilm. Am 1. Januar 1918 wird er mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Genesung heiratet er am 2. Mai Jacqueline Kohl, setzt seine Mitarbeit bei "Le Temps" und "Paris-Midi" fort und beginnt die Arbeit an zwei Theaterstücken und an der Opera buffa "Casanova". Die "Kalligramme" waren bereits erschienen.

    Am 9. November 1918 stirbt der infolge seiner Kriegsverletzung geschwächte Dichter an der Spanischen Grippe. Er wird auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt.

     

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    Informationen
    Entfernung
    123 km
    Die Städte
    Givenchy-en-Gohelle Ypres Boezinge

    Die nationale Bildung und Verteidigung im Dienste des CNRD

    Impressum 

    Warum ein Denkmal zu Ehren der für Frankreich in den Auslandsoperationen gefallenen Soldaten?

    Die Geschichte der Auslandsoperationen der französischen Armee seit 1963

    "Les petits artistes de la mémoire" und "Bulles de mémoire""

    Zeremonie vom 11. November 2015