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Der Platz der Familien

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Die Familie des Soldaten Henri Poiget besucht zum ersten Mal diesen am Friedhof von Bitola in Mazedonien begrabenen Frontsoldaten. © Stéphanie Trouillard

Immer mehr Franzosen befassen sich mit ihrer Familiengeschichte. Der 100. Jahrestag von 14-18 oder das 75-jährige Jubiläum der Befreiung haben sie in das Zentrum der Gedenkfeiern gerückt. Mit Leidenschaft treffen sie auf Friedhöfen oder bei Gedenkfeiern auf ihre Vergangenheit. Dank neuer digitaler Mittel ist ihre Recherchearbeit einfacher geworden. Mit dieser Maßnahme kann der Lebensweg von Ahnen wiederhergestellt, aber auch die Stille gebrochen werden.

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„Ich bin zu dir gekommen.“ Mit lebhaften Emotionen hält Yann Onraët das Kreuz seiner Urgroßtante Marthe de Goutière. „Ich wollte dir sagen, dass ich da bin und mich sehr freue, in deiner Nähe zu sein.“ Der Bretone legte Tausende Kilometer zurück, um sich zu dieser Krankenschwester zu begeben, die im Ersten Weltkrieg an der Ostfront an der spanischen Grippe gestorben war. Noch vor wenigen Monaten wusste er gar nicht, dass sie auf diesem Soldatenfriedhof von Bitola in Mazedonien ruhte. Denn ihr Grab wurde erst kürzlich von Mitgliedern der französischen Botschaft bei einer einfachen Besichtigung zwischen den Reihen entdeckt. „Ich hatte von ihr gehört und mich immer dafür interessiert. Aber es ist wirklich etwas ganz Besonderes, der erste meiner Familie zu sein, der hierher kommt“, erklärt der leidenschaftliche Ahnenforscher.

Yann Onraët nutzte zur Erfüllung dieses Wunsches eine vom Verein zur Erinnerung an die Ost- und Dardanellenfront organisierte Reise. Etwa dreißig weitere Personen begaben sich so wie er von Frankreich aus auf die Spuren ihrer Vorfahren. Wenige Meter von hier entfernt entdecken auch Michèle Galliot und ihre Tante Lucienne Connart zum ersten Mal das Grab ihres Urgroßvaters und Großvaters. Henri Poiget, ein französischer Frontsoldat aus dem Loiret, der im November 1916 gefallen ist, ruht unter der Nummer 4718. Vor seinem Kreuz in den Farben der Trikolore sprach seine Urenkelin ein paar Worte: „Wir sind hier. Du wurdest nicht völlig vergessen.“

Ihre Familie wusste bis dahin nicht, dass er eine Grabstätte hatte. Erst als sie den Verein zur Erinnerung an die Ost- und Dardanellenfront kontaktierte, erfuhr sie von der Existenz dieses Grabes. Denn mit wenigen Klicks ist es im Internet möglich, auf der Website „Mémoire des hommes“ des Verteidigungsministeriums die Sterbeurkunden der für Frankreich gefallenen Soldaten sowie auf den Websites der jeweiligen Botschaften die Friedhofsregister zu finden. „Wir dachten, er wäre in einem Massengrab. Wir kannten diese Orte nicht. Wir hatten schließlich Glück zu erfahren, wo wir suchen sollten. Für mich war dieser Großvater abstrakt, jetzt ist er konkret“, erklärt Lucienne Connart, die es nicht fassen kann, ihn schließlich hier besuchen zu können.

Die Auswirkungen der neuen digitalen Mittel

Seit Beginn der Hundertjahrfeiern von 14-18 im November 2013 hat die Digitalisierung vieler Archive die Gedenkpraxis grundlegend verändert. Die Website Grand Mémorial des Kulturministeriums fasst alle Wehrstammbücher der Soldaten, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, nach Département zusammen. In wenigen Minuten haben Internetnutzer nun von Zuhause aus Zugang zum Lebensweg ihrer Vorfahren.

Diese neuen Tools ermöglichen auch, die Wahrheit zu ermitteln. Anne-Marie Androuin hatte immer geglaubt, ihr Großvater, Charles Moizan, wäre auf See vor der Küste Griechenlands gestorben. Einen Monat vor Beginn der Reise teilte ihr der Verein zur Erinnerung an die Ostfront mit, dass diese Familiengeschichte falsch ist. Wie seine Kartei auf „Mémoire des Hommes“ zeigt, starb Charles in Wirklichkeit im Oktober 1918 an der spanischen Grippe und ruht auf dem Friedhof von Thessaloniki. „Das ist schrecklich und wunderbar zugleich“, ruft seine Enkeltochter aus, als sie seine Grabstätte entdeckt. Vor seinem Grab denkt Anne-Marie an diesen Ahnen, aber auch an jene, die sie gekannt hat und unter seiner Abwesenheit gelitten haben. „Siehst du, Papa, ich bin gekommen, um deinen Papa zu sehen. Der Kreis schließt sich“, ruft sie in den Friedhof, als sie sich an ein Versprechen erinnert, das sie ihrem Vater Henry gab, der im Alter von 13 Jahren Waise geworden war.

Familiäre Narben lindern

Diese Gefühle habe ich selbst gespürt. Fünf Jahre lang habe ich für France 24 die Hundertjahrfeiern betreut. Ich nutzte diese journalistische Arbeit, um meine Familiengeschichte zu recherchieren. Wie so viele wusste ich nichts über die Lebenswege meiner Vorfahren im Ersten Weltkrieg. Die Frontsoldaten meiner Familie waren in absolute Vergessenheit geraten. Wenn ich ihre Geschichten erzähle, habe ich den Eindruck, sie wieder zurückzuholen. Ich tat das für sie, aber auch, wie Anne-Marie, um an diejenigen in meiner Familie zu denken, die nicht das Glück hatten, an ihre Gräber zu kommen. Als ich den Namen meines Großonkels Joseph Trouillard auf dem 2014 frisch eingeweihten Ring der Erinnerung von Notre Dame de Lorette ansah, stellte ich mir vor allem die Gefühle vor, die mein Großvater gehabt hätte. Er trug denselben Vornamen und wäre glücklich gewesen, zu sehen, dass er schließlich Anerkennung gefunden hatte. Hundert Jahre später ermöglicht das Gedenken auch Wiedergutmachung.

Auch andere Konflikte haben Spuren hinterlassen. Meine Familie lebte 70 Jahre lang mit der tragischen Erinnerung an meinen bei einem Massaker im Jahre 1944 in der Bretagne umgekommenen Großonkel André Gondet, der Widerstandskämpfer war. Ohne Erklärungen wurde dieser Schmerz unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben. Die Erinnerung an André verblasste zwar immer mehr, aber die Narbe ist geblieben. Vor einigen Jahren wollte ich dieses Schweigen aus Neugier durchbrechen und wissen, wer dieses junge Mitglied der französischen Streitkräfte des Inneren war, der für Frankreich gefallen ist. Ich begab mich in die Archive und traf die letzten Zeitzeugen, um nach und nach das Puzzle seines kurzen Lebens zusammenzufügen. Diese Arbeit, die zum Verfassen des Buches Mon oncle de l’ombre führte, hat nicht nur ermöglicht, ihm wieder einen Platz in der Familiengeschichte zu geben, sondern auch durch die Beantwortung bislang unbeantworteter Fragen manche Narben gelindert. Bei Widmungen oder Vorträgen konnte ich feststellen, dass es immer mehr Menschen gibt, die denselben Weg beschreiten möchten. Zumeist handelt es sich um Enkelkinder. Der Generationenunterschied ermöglicht, etwas Abstand zu gewinnen und schließlich diesen bleiernen Mantel zu sprengen. Nach 70 Jahren und dank der Öffnung der Archive des Zweiten Weltkriegs steht ihnen auch eine größere Zahl von Dokumenten zur Verfügung. Die Nachfahren brauchen nur etwas Orientierung im Labyrinth des Archivwesens.

 

Des enfants, dont le petit Evan, reçoivent la médaille de  la résistance attribuée à titre posthume à l’un de leurs aïeuls, le 9 février 2019,  à l’Ordre de la Libération. © Stéphanie Trouillard

Kinder, darunter der kleine Evan, erhalten die Widerstandsmedaille, die posthum einem ihrer Ahnen verliehen wurde, am 9. Februar 2019, im Ordre de la Libération.
© Stéphanie Trouillard

 

Improvisierte Forscher wie ich wollen mehr über ihre Vergangenheit erfahren, aber auch ihre Vorfahren ehren. Die Gedenkfeiern bieten ihnen die Gelegenheit, ihr Gedenken auf konkrete Weise zu ehren. Ob nun anlässlich der Hundertjahrfeier oder des 75-jährige Jubiläums der Befreiung, viele haben Ausstellungen organisiert, neue Tafeln enthüllt, Namen auf Kriegsdenkmälern hinzugefügt oder Auszeichnungen für ihre Ahnen erhalten. Meine eigenen Recherchen führten im Februar 2019 zur Verleihung der Widerstandsmedaille an meinen Großonkel André. Sie wurde dem Jüngsten unserer Geschwister, meinem vierjährigen Neffen Evan, im Zuge einer Zeremonie im Ordre de la Libération symbolisch überreicht. Diese Zusammenkunft stand am Ende jahrelanger Forschungen und brachte meine Familie zusammen. Dank dieses Endpunktes war vor allem eine Weitergabe der Geschichte an die neue Generation möglich. Durch das Gedenken an seinen Einsatz ist André aus dem Schatten getreten und die Erinnerung an ihn weitergegeben. Unser Gespenst ist verschwunden.

Stéphanie Trouillard - Journalistin bei France 24, Autorin von Mon oncle de l’ombre, enquête sur un maquisard breton (2018).