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Das Gedenken als bevorzugtes Mittel der Verteidigungsdiplomatie

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Besucher erkunden die australische Gedenkstätte von Villers-Bretonneux (Somme) anlässlich der Feierlichkeiten zum ANZAC Day, 25. April 2019. © Philippe Huguen/AFP

Seit vielen Jahren erleben wir in Frankreich einen intensiven Zyklus von Gedenkfeiern, die gemeinsam mit ausländischen Nationen, früheren Alliierten wie Gegnern, begangen werden und unseren Blick auf die Vergangenheit sowie unsere Gedenkreflexe weiterentwickeln. Diese Feiern wirken sich auf die bilateralen Beziehungen zwischen den Staaten aus, die Garanten und Themen der Gedenkpolitik sind. Die Gedenkhandlung ist auch ein Mittel der Verteidigungsdiplomatie, die in vielerlei Hinsicht über die eigentlichen Ziele hinausgeht.

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Der Einsatz von Gedenkfeiern als diplomatisches Instrument ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Bereits 1919 war der am 19. Juli in London abgehaltene Victory March Anlass für eine gemeinsame alliierte Parade, die unter Führung von Marschall Foch den gemeinsamen Sieg feierte und damit einen Beitrag zu einem stärkeren Zusammenhalt zwischen den Alliierten leistete. Seit den 1980er-Jahren lädt Frankreich regelmäßig Vertreter aus Staaten der ganzen Welt zur Teilnahme an den Gedenkfeiern ein, da die internationale Dimension der heutigen Konflikte nicht unbeachtet gelassen werden kann und darf.

Das Gedenken als dauerhaftes und verbindendes Mittel in diplomatischen Beziehungen

Mit unseren Partnern den großen Episoden der Militärgeschichte zu gedenken, bedeutet vor allem, gemeinsam den Frieden zu feiern. Es bedeutet, uns zu erinnern, warum wir damals gekämpft haben und was wir heute bewahren möchten. Es ist auch eine Bestätigung dafür, dass unsere gemeinsamen Ziele und Interessen fortbestehen, ebenso wie unsere partnerschaftlichen Beziehungen, und zwar trotz der Distanz und der Differenzen, die heutzutage manchmal zwischen den damaligen Alliierten liegen.

Das ist die Botschaft Frankreichs. Ein Paradebeispiel dafür ist die Gedenkpartnerschaft, die Frankreich mit den Ländern des Commonwealth verbindet. Diese sind weit entfernte Nachbarn, deren Engagement für die Aufwertung des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg bemerkenswert war, denn sie brachten fast 50 der 267 Projekte ein, die vom Ausschuss für die Hundertjahrfeier im Ausland ausgewählt wurden. Ein gutes Beispiel ist Australien, das eine besondere Gedenkbeziehung zu Frankreich aufgebaut hat. Nach einem 2003 unterzeichneten ersten Memorandum verstärkte ein zweiter Text 2013 die gemeinsamen Aktionen rund um das Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Denn Kontinentalfrankreich und die französischen Überseegebiete tragen das Gedenken an die australischen Soldaten, die in beiden Weltkriegen auf französischem Boden gefallen sind und begraben wurden. 1938 wurde in Villers-Bretonneux im Département Somme das Nationaldenkmal Australiens errichtet, das die Namen von 11.000 australischen Soldaten trägt, die in Frankreich gefallen sind oder vermisst wurden. Dort wird seit 1998 der Anzac Day gefeiert. Zu dieser Veranstaltung kommen tausende Australier und Neuseeländer – 2018 waren es bei der Hundertjahrfeier zur Befreiung der Stadt 8.000. In Neukaledonien wird der Anzac Day seit den Jahren 1980-1990 mit französisch-australischen Festakten gefeiert. Diese Aktionen tragen zur Festigung der Beziehungen mit den regionalen Mächten des Commonwealth bei.

Das „gemeinsame Gedenken“ sorgt durch seine geschichtliche Verankerung auch für die Fortführung der internationalen Beziehungen, und das vielleicht ganz besonders in Krisenzeiten. Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Ehrung durch Frankreich und Russland für den Einsatz des Geschwaders „Normandie-Njemen“ trotz der Unterbrechung ihrer militärischen Kooperation nach der illegalen Annexion der autonomen Republik Krim und Sewastopol. Frankreich ist mit dieser Politik nicht allein. So erinnern wir uns alle noch an das Bild des amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der am 6. Juni 2014 an den Stränden der Normandie neben dem russischen Präsidenten Vladimir Putin steht und diesen am Ende des Festaktes auffordert, „die Spannungen in der Ukraine abzubauen“. Bei dieser und anderen Gelegenheiten verstand es Frankreich, welches in beiden Weltkriegen das Schlachtfeld der Welt war, ein unverzichtbarer Akteur der Gedenkdiplomatie zu werden, die Matthew Graves berechtigterweise als eine Form von Soft Power bezeichnet.

 

Macron Merkel

Der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel feiern den Waffenstillstand vom 11. November 1918 in Rethondes, November 2018.
© Philippe Wojazer/AFP

 

Überwindung alter Konflikte und Versöhnung der Erinnerungen

So wie die Gedenkpolitik die Würdigung ehemaliger Allianzen ermöglicht, erlaubt sie auch die Überwindung vergangener Konflikte und die Stärkung gegenwärtiger Beziehungen durch Belebung der Erinnerung ihrer Ursprünge.


Obwohl sie sich in beiden Weltkriegen als Feinde gegenüberstanden, ist festzustellen, dass Frankreich und Deutschland heute unverzichtbare Partner sind. Diese Tatsache wird durch ihre vorbildliche Gedenkbeziehung gleichermaßen veranschaulicht und verstärkt.

Nach dem Vorbild von Konrad Adenauer und General de Gaulle in Reims 1962 oder auch von François Mitterrand und Helmut Kohl 1984, die sich vor dem Beinhaus von Douaumont an den Händen halten, diente die deutsch-französische Gedenkbeziehung als Basis der von Aristide Briand und Gustav Stresemann erträumten Versöhnung. Bereits 1974 lud Präsident Giscard d’Estaing die Botschafter der beiden deutschen Staaten zu den Gedenkfeiern am 11. November ein, als sich Kanzler Brandt für ihre Annäherung einsetzte. Der Beginn des Jahrtausends markierte einen neuen Schritt in dieser Beziehung. Es hat bis 2004 gedauert, dass der deutsche Kanzler Schröder zur Gedenkfeier der Landung eingeladen wurde und bis zum 11. November 2010, als der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin unter dem Triumphbogen vereint waren. Neben Dutzenden Veranstaltungen, bei denen die französischen und deutschen Repräsentanten zusammenkamen, und in einer Zeit, in der die Visionen über das politische Europa aufeinanderprallen, tat sich das französisch-deutsche Paar bei noch nie dagewesenen „Gedenkszenen“ hervor, wie in Oradour-sur-Glane, wo die Präsidenten Frankreichs und Deutschlands 2013 zusammentrafen, oder auch in Rethondes, wo die Waffenstillstände von 1918 und 1940 unterzeichnet worden waren und sich Präsident Emmanuel Macron, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sowie französische und deutsche Schüler 2018 einfanden.

Von Europa abgesehen, hat sich Frankreich auch in Richtung der ehemaligen Kolonien mit Gedenkpraktiken für eine Politik der Beschwichtigung und Versöhnung engagiert. Die Erinnerung an den lange Zeit ignorierten Einsatz der Kolonialtruppen wurde in den letzten Jahren in das nationale Gedenken aufgenommen. So wurden zum Beispiel anlässlich des 70. und 75. Jahrestages der Befreiung Korsikas 2013 und 2018 die letzten marokkanischen Goumiers besonders gewürdigt. Im Rahmen der Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs wurde das Opfer der Schützen (Tirailleurs) mehrmals bei Kultur- und Gedenkveranstaltungen geehrt. Was die ehemalige Kolonie Indochina betrifft, so begab sich Premierminister Édouard Philippe 25 Jahre nach François Mitterrand im November 2018 nach Vietnam, wo er die 13.000 Gefallenen und Vermissten der Schlacht von Diên Biên Phu ehrte..

 

Diên Biên Phu 2018

Premierminister Édouard Philippe am Friedhof von Diên Biên Phu, 3. November 2018. © Jewel Samad/AFP

 

Die „Erben der Erinnerung“ jenseits der Grenzen

Das Gedenken überschreitet Grenzen, lässt die Umstände vergessen und überwindet Konflikte. Sie führt auch über Altersgrenzen hinweg zusammen und trägt damit zur generationenübergreifenden Konsolidierung der diplomatischen Beziehungen bei. Denn „gemeinsame Gedenkfeiern“ fördern den Austausch zwischen den jungen Generationen aller Länder und tragen dazu bei, ihnen die Erinnerungen an die zeitgenössischen Konflikte zu vermitteln. Die Beteiligung der Jugendlichen lässt sich nicht nur anhand ihrer Teilnahme an internationalen Feierlichkeiten ermessen (anlässlich des 75. Jahrestages der Landung in der Normandie am vergangenen 6. Juni lasen ausländische Jugendliche Texte vor, die damals von Kämpfern ihrer Länder verfasst wurden), sondern äußert sich auch in der Durchführung von Schulprojekten.

Die Direktion für Kulturerbe, Erinnerung und Archive (DPMA) unterstützt daher jedes Jahr, unter den 1.000 Projekten, die einen Zuschuss erhalten, fast 200 Schulprojekte, inklusive einer Reise an einen Gedenkort im Ausland. Darüber hinaus werden in französischen Gymnasien im Ausland von der DPMA vorgeschlagene Projektausschreibungen über die Agentur für den Französischunterricht im Ausland verbreitet, womit ein doppelter Blick auf die zeitgenössischen Konflikte gefördert wird. Beispielsweise reichte das französische Gymnasium von Baku in Aserbaidschan 2018 das Projekt „Kapitän Nemo entdeckt die Verteidigung: von der Nautilus bis zum Atom-U-Boot, 150 Jahre maritime Abenteuer“ ein. Um die Mobilisierung dieses Netzwerks zu veranschaulichen, hat die DPMA im Rahmen der Operation „Erben der Erinnerung“ den Preis „gemeinsames Gedenken“ geschaffen, mit dem 2019 eine Klasse des französischen Gymnasiums von Casablanca bei einem Festakt im Pantheon, an dem die DGRIS die Ehre hatte teilzunehmen, ausgezeichnet wurde.

Héritiers mémoire 2019

Verleihung des Preises „gemeinsames Gedenken“ an Schüler des französischen Gymnasiums von Casablanca im Rahmen der Operation „Erben der Erinnerung“, Pantheon, 23. Mai 2019.
© Arnaud Karaghzian/ECPAD/Verteidigung

 

Darüber hinaus haben die Gedenkfeiern den Schüleraustausch wesentlich gefördert, insbesondere im Rahmen der Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs. 2013 entstand das Projekt „Shared histories“, dessen Ziel die Förderung des Austauschs zwischen Frankreich und Neuseeland ist. Neuseeländische Schüler konnten dank dieses Projekts 2014 als „junge Botschafter“ nach Frankreich und Belgien reisen, um dort die Gedenkorte kennenzulernen.


Schließlich bot die „Fabrique Défense“ Gelegenheit, zwischen Oktober 2019 und Januar 2020 bei 80 Veranstaltungen mit über 14.500 Teilnehmern in Frankreich und Europa die Vielfalt der Maßnahmen des Ministeriums im Bereich der Gedenkpolitik in den Mittelpunkt zu stellen. Dieser völlig neuartigen Veranstaltungsreihe, die der Jugend gewidmet war, gelang es, die generationenübergreifende Dimension weiter zu verstärken und die europäische Dimension erfolgreich hervorzuheben. Diese zeigte sich in der Teilnahme der Verteidigungsministerien der Schweiz und Portugals sowie des britischen Staatssekretärs an der Pariser Veranstaltung vom 17. und 18. Januar 2020, die 6.500 Besucher anlockte.

Gedenken im Ausland

Auch außerhalb Frankreichs erinnert man sich an die bewaffneten Konflikte, in denen sich das Land engagiert hat, wobei das Gedenken vor allem in der steinernen Erinnerungskultur verankert ist. Diese Erinnerung wird im Ausland von unserem diplomatischen Netz gepflegt, insbesondere von unseren 89 Verteidigungsattachés, die 166 Länder betreuen.

Die der Leitung der DGRIS unterstehenden Verteidigungsattachés erfüllen ein umfangreiches Aufgabenspektrum im Bereich der Verteidigungspolitik, der Wache, der militärischen Kooperation und der bewaffneten Beziehungen. Ihre Aufgabe umfasst auch die Gedenkpolitik, die manchmal einen wesentlichen Bestandteil der bilateralen Verteidigungsbeziehungen bildet. Die Verteidigungsattachés müssen daher gemäß den Vorgaben der DPMA für die Pflege der französischen Soldatenfriedhöfe (die es in 80 Ländern gibt) sowie die Organisation offizieller Feierlichkeiten sorgen, da die nationalen Tage auch im Ausland gefeiert werden und einen starken Beitrag zum strategischen Wirkungsbereich Frankreichs leisten. Die Gedenkzyklen der letzten Jahre ermöglichten auch eine konkrete Umsetzung verschiedener Kooperationen im Gedenkbereich in Stein. So bot das Verteidigungsministerium Irland ein Denkmal zu Ehren der Iren an, die für die Verteidigung und Freiheit Frankreichs gekämpft hatten. Es wurde 2016 am Friedhof Glasnevin in Dublin eingeweiht, ebenso wie eine französische Gedenkstätte, die 2018 im Pukeahu National War Memorial Park von Wellington in Neuseeland feierlich eröffnet wurde. Lauter Bezeugungen der Anerkennung Frankreichs gegenüber seinen früheren Alliierten.

 

age inauguration mémorial français Nouvelle-Zélande

Einweihung der französischen Gedenkstätte im War Memorial Park de Wellington, Neuseeland, durch die Staatssekretärin Geneviève Darrieussecq und den neuseeländischen Justizminister Andrew Little am 4. Mai 2018.
© Französische Botschaft in Neuseeland

 

Das Jahr 2020 gibt seinerseits Anlass für mehrere Gedenkzyklen, bei denen das „gemeinsame Gedenken“ ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Der 70. Jahrestag des Koreakriegs bietet zum Beispiel die Gelegenheit, die wichtigen Spuren der Erinnerung hervorzuheben, welche die Beteiligung des französischen Bataillons der UNO hinterlassen hat: ein Abschnitt am Soldatenfriedhof der Vereinten Nationen in Pusan, ein Gedenkweg mit 17 Stelen, die auf die wichtigen Kampfstätten des französischen Bataillons aufgeteilt sind, ein nationales Denkmal in Suwon, ein koreanisches Denkmal zu Ehren des Oberstarztes Jules Jean-Louis in Hongcheon sowie eine Tafel und eine Gedenksäule im War Memorial von Séoul. Darüber hinaus wird das Denkmal, das in Paris zu Ehren der Männer des Koreabataillons errichtet wurde, mit einer Tafel versehen, auf der die Namen der zwischen 1950 und 1953 Gefallenen verzeichnet sind und die im Oktober feierlich eingeweiht werden soll.


Der diplomatische Bereich des Gedenkens bietet die Möglichkeit, sich gemeinsam an das Engagement der Nationen in den zeitgenössischen Konflikten zu erinnern, mit der Perspektive einer gemeinsamen, friedlichen Zukunft unter Wahrung der verschiedenen Gedenkkulturen. Die gemeinsamen Gedenkfeiern der letzten Jahre sollen fortgesetzt werden, um die unerlässliche Verbindung zwischen Alliierten und Gegnern von früher aufrechtzuerhalten und sich an Gedenkpraktiken unserer Partner als Anregung für Neuerungen zu orientieren.  
 

 

Alice Guitton, Generaldirektorin für internationale Beziehungen und Strategie im Verteidigungsministerium