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1915 1916 Die doppelte Entstehung des Canard enchaîné

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Chapeau

Der Canard enchaîné entstand während des Krieges, gegen den Krieg oder, genauer gesagt, gegen eine gewisse „Kriegskultur“. Nicht defätistisch, auch nicht wirklich pazifistisch, konnte die Zeitschrift ihre unterschiedliche Haltung in der französischen Presselandschaft behaupten.

Texte

Die „Kriegskultur“ trug ihre bemerkenswertesten Früchte in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs, als Le Matin auf seiner Titelseite berichtete, dass die Kosaken nur fünf Etappen von Berlin entfernt seien und L'Intransigeant behauptete, dass „die deutschen Kugeln die Körper durchdringen, ohne Verletzungen zu hinterlassen“. Zwei Journalisten, die bei Zeitungen arbeiteten, die diese geistige Vergewaltigung der Massen praktizierten, die, ihrer Meinung nach, einer Gehirnwäsche glich, eine Mischung aus kriegslüsternem Chauvinismus, trügerischem Optimismus, Verherrlichung des Opfers Anderer, Verteufelung des Feindes, entschlossen sich, eine Anti-Propaganda-Zeitung zu veröffentlichen…durch Humor. Am 10. September 1915 brachten der Redakteur Maurice Maréchal und der Zeichner Henri-Paul Deyvaux-Gassier, genannt H.-P. Gassier, die erste Nummer des Canard enchaîné heraus. Ihr hauptsächlicher Wunsch war es, eine Zeitung zu gründen, die sich von allen anderen unterschied und völlig unabhängig von den wirtschaftlichen und politischen Kräften war. Ihrer Meinung nach verfolgte dieses Programm die strikte Ablehnung von Werbung, von Bankdarlehen und externen Investoren: Der Canard würde sauber sein, weil er unabhängig ist, unabhängig weil sauber.

Der Name, den sie ihrer Zeitung gaben, ist die Frucht von Referenzen und Umständen. Der „Canard (Ente)“, eine manchmal wahre, immer übertriebene und oft falsche Nachricht, laut Gérard de Nerval, ist ein journalistischer Ausdruck, der häufig einen Fehler, eine freiwillige Mystifikation oder einen im Voraus geschriebenen Artikel bezeichnet. Sie ziehen sich selbst und die so genannte „seriöse“ Presse ins Lächerliche, deren Lügen oft den alten „Zeitungsenten“ entsprach. Deshalb haben Maréchal und Gassier diesen Namen gewählt, wie es im Leitartikel auf der Titelseite der ersten Ausgabe erklärt wird.

Der Canard enchaîné nimmt sich die Freiheit heraus, ausschließlich und nur nach gründlicher Untersuchung, strikt falsche Neuigkeiten zu veröffentlichen. Jedem ist bekannt, dass die französische Presse ohne Ausnahme ihren Lesern seit Beginn des Krieges nur ausgesprochen wahrheitsgetreue Neuigkeiten liefert. Nun gut! Den Lesern reicht es! Die Leser wollen zur Abwechslung falsche Nachrichten. Sie werden sie bekommen."

Man sieht von Anfang an, dass der Canard eine sehr spezielle Form von Humor benützte, basierend auf Antiphrasen, Understatements und falschen Gefühlen. Die Ironie antwortete auf einen Imperativ der Effizienz: Es gibt vielleicht keine mächtigere Waffe als den Humor in der französischen Polemik, und der begeisterte Leser von Voltaire, der Maréchal war, wusste dies sehr genau. Dazu kam die Beobachtung der Zensur, die es verbot, direkte antikonformistische Meinungen zum Krieg auszudrücken. Während La Vague des pazifistischen Sozialisten Pierre Brizon mit „Lücken“ der Zensoren übersät war, wurde Homme libre von Clemenceau wegen eines zu kritischen Artikels über die schlechte Hygiene der Sanitätszüge vorübergehend eingestellt – er nannte die Zeitung später, im Oktober 1914, L'Homme enchaîné, was ohne Zweifel die Autoren des Canard inspirierte -, die kleine, satirische Zeitung, obwohl oft auf die Probe gestellt, entkam mehr als einmal der Aufsicht von „Anastasie“ – so lautete der Name, der der Zensur gegeben wurde – dank seiner Doppelzüngigkeit. Zudem, wie ein Leser einige Jahre später bestätigte, gab es in den Lücken des Canard mehr zu lesen als in einem ganzen Jahr in Matin.

Die erste Serie von 1915 zählte fünf Ausgaben und wurde dann eingestellt. Ohne Zweifel hatten die Herausgeber Schwierigkeiten, ihr Publikum zu finden. Der handwerkliche Charakter der Zeitung, die schlechte Organisation und die angespannte Finanzsituation gaben ihnen den Rest und zwangen die beiden Kameraden, ihr Experiment abzubrechen. Aber sie gaben nicht auf, und am 5. Juli 1916 erschien der Canard erneut, was während der vier Jahre der Besetzung anhielt. Die Gründer waren immer noch auf dem Posten, aber sie hatten neue Mitarbeiter engagiert, von denen einige in den Nachkriegsjahren Berühmtheit erlangen sollten: Henri Béraud, Paul Vaillant-Couturier, Roland Dorgelès machten ihre Anfänge beim Canard, mit anderen Journalisten, deren Namen vergessen wurden, Victor Snell, Georges de la Fouchardière, André Dahl, René Buzelin, Rodolphe Bringer unter den Redakteuren, Lucien Laforge, Jules Dépaquit, Bécan, Paul Bour, André Foy bei den Zeichnern. Einige, darunter Gassier, verließen die Zeitung schon zu Beginn der Zwanziger Jahre; jene, die bleiben, bildeten das Rückgrat des Canard in der Zwischenkriegszeit. Abgesehen von der Stabilität des Teams ist die Langlebigkeit bestimmter Rubriken der Zeitung frappierend, manche bestehen bis heute unter dem ursprünglichen Titel, insbesondere „La Mare aux canards“ auf Seite 2, oder in ihrer Originalform „Les Livres“. Im Laufe der Jahre wurde diese Stabilität der Redaktion zu einem der Markenzeichen des Canard enchaîné.

Von Anfang an wurde der Canard in ganz Frankreich gelesen. 40 % der erfassten Leser wohnten in Paris und der umliegenden Gegend; die Hauptstadt umfasste ein Viertel der Leser, die sich bei der Zeitung gemeldet hatten. Der Pariser Charakter der Zeitung bestätigt sich also. Die Soldaten an der Front machten ihrerseits 20 % der Leserschaft aus. Drei Provinzregionen teilten sich den Hauptteil der restlichen Leserschaft: Pays de la Loire; die Region Lyon; die Normandie. Der Vertriebsweg der Zeitung an die Abonnenten, die an der Front kämpften, erwies sich als sehr schwierig. Ein Leser, der Le Canard enchaîné während des Ersten Weltkriegs entdeckt hatte, erinnerte sich, dass „der Canard in der bewaffneten Zone verboten war und er seine Zeitung in einem geschlossenen Briefumschlag erhielt. Ein anderer Leser, der 1962 von sich behauptete, der älteste Leser des Canard zu sein, erinnerte sich, dass seine Eltern ihm Nummern zusandten, die „verdammt zensiert und immer in die Seiten der Zeitung von Rouen eingeschoben waren, da er zu jener Zeit beim Generalstab, wo ich Funker war, nicht gerne gesehen wurde“.

Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Verbreitung an der Front streng von den militärischen Obrigkeiten überwacht wurde, jedoch scheint es, dass das schlichte Verbot des Canard enchaîné vor allem auf die Initiative einiger Offiziere und nicht auf eine allgemeine Anordnung zurückzuführen ist. Dies wird auch in einem Brief eines dritten Lesers bestätigt, der der Zeitung im Oktober 1918 zugestellt wurde:

"Irgendein Versteckter mit sicherer Hand / Um zwei Pfennige zu sparen / behält dich im Namen der Zensur / Und bestiehlt die Frontsoldaten".

Die Lektüre des Canard enchaîné durch die Soldaten erfüllte zwei Zwecke: Ein Entkommen der Indoktrination, nicht den wichtigen Zeitungen auf den Leim gehen; und die Pariser Fröhlichkeit zu verspüren, deren Echo sich in den Zeilen des geistreichen Wochenblatts verbreitete.


Auteur
Laurent Martin – Professor für Geschichte an der Universität Paris III Sorbonne-Nouvelle

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Bibliografie

Le Canard enchaîné ou les fortunes de la vertu, histoire d'un journal satirique 1915-2005, Laurent Martin, rééd. Nouveau Monde, 2005.

Online-Artikel

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